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Die Nacht der Wölfe

Die Nacht der Wölfe

Titel: Die Nacht der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Ross
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sieht alles, was in dieser Gegend passiert.«
    Clarissa bezähmte ihre Ungeduld nur widerwillig, ahnte aber auch, dass die Heilung noch länger dauern würde, falls die Wunde noch einmal aufbrach. Rose bedeckte sie jeden Morgen mit frischen Kräutern und rieb ihren Oberarm mit einer selbstgemachten Salbe ein, die ihren Schmerz linderte und ermöglichte, dass sie ihren Arm bereits wieder einigermaßen bewegen konnte.
    Während John mit dem Schlitten unterwegs war, unterhielt sich Clarissa ausgiebig mit der Indianerin. Obwohl Rose mehr als doppelt so alt war wie sie, hatten sie viel gemeinsam, erfreuten sie sich an den gleichen Tieren: die mächtigen Elche, die stets so majestätisch und gelassen wirkten, die Wölfe, so gefährlich sie auch manchmal waren, die Adler, unbezwingbar in der Luft und pfeilschnell, wenn es darum ging, nach unten zu schießen und eine Beute zu fangen. In der Wildnis des Hohen Nordens herrschte ein ewiger Kampf, jeder Mensch, jedes Tier und sogar die Pflanzen kämpften täglich ums Überleben, und doch konnte sich niemand vorstellen, diese Gegend jemals zu verlassen.
    »Du hast indianisches Blut in dir«, sagte Rose einmal.
    »Meine Großmutter«, antwortete Clarissa.
    Rose lächelte. »Das spürt man. Ich habe selten eine weiße Frau getroffen, die so denkt wie du. Wenn ich jünger wäre, könnten wir Freundinnen sein.«
    »Das können wir auch so, Großmutter.« Clarissa gebrauchte die respektvolle Anrede der Indianer, eine Verbeugung vor der Erfahrung und Weisheit eines Menschen. »Sobald ich meinen Mann gefunden habe, werden wir dich besuchen. Er ist ein weißer Mann, aber er denkt wie ich und würde sich sehr freuen, dich und deinen Mann kennenzulernen.« Von draußen drangen Hundegebell und das Scharren von Schlittenkufen herein. »Ah, da kommt John!«
    Diesmal wirkte die Miene des Indianers noch nachdenklicher und verschlossener. Nachdem er die Huskys versorgt und seine Winterkleidung ausgezogen hatte, setzte er sich auf einen Stuhl und blickte stumm vor sich hin. Weder seine Frau noch Clarissa wagten ihn anzusprechen. Rose brachte ihm einen Becher Tee, setzte sich und kümmerte sich wieder um ihre Handarbeit.
    Clarissa wartete, bis John seine Pfeife mit Tabak gefüllt und sie umständlich in Brand gesetzt hatte, dann hielt sie es nicht länger aus: »Ist … ist er tot?«
    Der Indianer schwieg weiter, schien sich seine Antwort genau zu überlegen, bevor er antwortete: »Das weiß ich nicht. Ich war weit im Nordwesten, konnte schon den Yukon in der Ferne sehen, aber von ihm gab es keine Spur. Auch von den Verbrechern nicht. Ich war überall und dachte schon, der Rabe wollte mir einen Streich spielen, wie er es manchmal tut, wenn ich lange unterwegs bin. Der Rabe ist ein listiger Bursche und weiß, wie er mich am besten ärgern kann. Einmal lockte er mich auf einen falschen Trail, und ich …«
    Rose ermahnte ihn mit einem Wort in ihrer Sprache.
    John räusperte sich verlegen und paffte erneut an seiner Pfeife. Er rauchte immer, wenn er ein schwieriges Problem zu bewältigen oder etwas Unangenehmes zu erklären hatte. »Wie auch immer, ich habe Ihren Mann nicht gefunden. Ich glaube nicht, dass er noch in den Bergen ist. Wenn er jemals in unserer Nähe war, hatte er ein gutes Versteck, aber jetzt ist er verschwunden, und ich würde Ihnen gern sagen, dass er sich in einem der Dörfer am Yukon aufhält, aber …«
    Clarissa spürte, wie sich ihre Kehle verengte. »Ja?«
    »Ich weiß nicht, wo er ist«, wiederholte der Indianer. »Aber auf dem Trail nach Norden habe ich eine Eule rufen hören und mache mir große Sorgen um ihn.« Er blickte sie düster an. »Sie wissen, was es bedeutet, eine Eule zu hören …«
    »Dass jemand vom Tod bedroht ist«, flüsterte sie.

13
    Clarissa verließ den Indianer und seine Frau am nächsten Morgen. Die Prellungen, die sie bei dem Sturz erlitten hatte, taten noch weh, aber der Schmerz war zu ertragen, und sie war überzeugt, den Schlitten steuern zu können. Die Wunde an ihrem linken Oberarm verkrustete bereits und war nur noch ein wenig geschwollen. Rose legte ihr einen frischen Verband an, packte Proviant ein und füllte ihre Feldflasche mit frischem Weidenrindentee.
    John überreichte ihr ein Amulett, einen winzigen Wolf aus Hirschgeweih, als hätte er gewusst, dass sie mit einem geheimnisvollen Wolf in Verbindung stand. Er hing an einem Lederband und konnte wie eine Kette getragen werden. Der Indianer hatte ihn selbst geschnitzt. »Wenn jemand seiner

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