Die Nacht der Wölfe
geschehen war?
Ein Wunder, wie sie es damals mit seiner Rückkehr erlebt hatte, würde sich wohl kaum wiederholen. Nicht immer war das Schicksal auf der Seite der Liebenden.
Sie hielt ihr Gesicht in den Wind und verdrängte die düsteren Gedanken. Nein, sagte sie sich, so schnell würde sie nicht aufgeben. Ein Umweg über die Indianerdörfer am Yukon River würde sie höchstens einen halben Tag kosten, und wenn sie sich dort nach Alex erkundigt hatte, könnte sie wenigstens mit der Gewissheit nach Hause zurückkehren, alles getan zu haben, was in ihrer Macht stand.
Auf das Aufgebot wollte sie sich nicht verlassen. Der Marshal war vor allem daran interessiert, Frank Whittler festzunehmen, um seinen Ruf aufzupolieren und irgendwann für ein politisches Amt kandidieren zu können, und nahm bestimmt keinen weiten Umweg in Kauf. Er war ohnehin nicht damit einverstanden gewesen, Alex allein in die Berge ziehen zu lassen.
Sie streckte sich und schob den Schlitten mit einem Fuß an. »Genug gefaulenzt!«, rief sie sich selbst und den Huskys zu. »Wir haben noch ein hübsches Stück Weg vor uns und kommen nie nach Hause, wenn ihr weiter so trödelt. Alex ist verschwunden! Ihr habt richtig gehört, er hat sich wieder mal aus dem Staub gemacht, und wir müssen einen kleinen Umweg über die Dörfer am Yukon machen, bevor es nach Hause geht. Also strengt euch gefälligst an und hängt nicht so faul in euren Geschirren. Vorwärts, Emmett … giddy-up!«
Der Anfeuerungsruf ihres Mannes sollte ihr Glück bringen. So wie das Medaillon, das sie trotz der eisigen Kälte um ihren Hals spürte, und die stillen Gebete, die sie zum Himmel schickte. Trotz der lockeren Rede merkten die Hunde allein am Tonfall ihrer Stimme, wie ernst sie es meinte und wie viel davon abhing, dass sie das Tempo verschärften und keinen Fehler machten.
Auf dem Eis des Beaver Creeks hatten sie freie Bahn. Auch im düsteren Licht der wenigen Sterne war der Trail deutlich zu erkennen. Am östlichen Horizont musste bereits der Tag heraufgezogen sein, doch das helle Schimmern, das sonst zu sehen war, verschwand hinter dichten Wolken, und die Nacht blieb mit ihrem fahlen Licht und den dunkelblauen Schatten. Es hatte zu schneien begonnen. Clarissa schob ihren Schal über Mund und Nase und zog die Pelzmütze tief in die Stirn, um besser gegen den Flockenwirbel geschützt zu sein. Sie ging jetzt öfter in die Knie, weil die Hunde schneller liefen und der Schlitten jede Unebenheit mitnahm. Sie spürte die Verletzung kaum noch, zuckte nur zusammen, wenn sie nicht aufpasste und der Schlitten über eine besonders starke Bodenwelle holperte, mit der Hand des verletzten Arms konnte sie mittlerweile sogar kräftig zupacken. »Heya, heya! Vorwärts!«, rief sie.
Auf dem Trail, über den das Aufgebot gekommen war, bog sie nach Nordwesten ab. Er folgte der Wagenstraße, über die im Sommer die Fuhrwerke zum Yukon fuhren, und war ihr vertraut. Schon mehrmals während der vergangenen Jahre war sie mit Alex über diesen Trail gefahren, um neue Jagdgründe auszuloten, aber auch um den Yukon River zu bestaunen, den König aller Ströme, der sich breit und erhaben durch die weiten Flatlands nach Westen zog. Einmal hatten sie in einem Kanu auf dem Yukon gefischt, weniger wegen der Beute als wegen des berauschenden Gefühls, diesen riesigen Fluss hautnah und mit allen Sinnen zu erleben und auf einer seiner Inseln zu lagern und ein Picknick zu veranstalten. Wie zwei neugierige Städter, die zum ersten Mal die Wildnis erleben, hatten sie den großen Fluss bestaunt.
An diesem Morgen fühlte sie sich beim Anblick des Yukon River eher bedrückt, und sie hielt nicht einmal an, um die unendliche Weite der Flatlands auf sich wirken zu lassen. Wie ein helles Band zerteilte der zugefrorene Fluss die kobaltblauen Wälder und Wiesen, die sich zu beiden Ufern erstreckten und in der Ferne mit dem dunklen Horizont verschmolzen. Durch eine Lücke zwischen den Wolken fiel ein heller Lichtstrahl auf den Fluss und ließ ihn an einer Biegung wie flüssiges Silber glänzen, verschwand aber schon im nächsten Augenblick wieder hinter der Wolkendecke und ließ düsteres Zwielicht zurück. Das Krächzen eines Nachtvogels begleitete sie einen Hügel hinab.
Der Trail führte in sanften Windungen zum Yukon hinunter. Es gab kaum Hindernisse, sogar der Wind hatte wieder nachgelassen, und sie kamen zügig voran. Nach den Anstrengungen in den Ausläufern der White Mountains freuten sich die Huskys über den
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