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Die Nacht der Wölfe

Die Nacht der Wölfe

Titel: Die Nacht der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Ross
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bequemen Trail und die Möglichkeit, in weiten Sätzen ihre Schnelligkeit ausspielen zu können.
    Clarissa war kaum gefordert, sie konnte mit beiden Beinen auf dem Trittbrett bleiben und brauchte die Hunde auch nicht anzufeuern. Sie rannten von ganz allein. In der Hocke, um gegen Bodenwellen gewappnet zu sein, steuerte sie den Schlitten nach unten.
    Von den zahlreichen Indianerdörfern, die am südlichen Ufer des Yukon lagen, waren drei auch im Winter bewohnt. Die anderen waren Sommerlager, in denen die Indianer nur während der Lachssaison übernachteten. Schon aus der Ferne hörte Clarissa das Heulkonzert der Huskys und wunderte sich nicht, dass Emmett ungefragt das Tempo beschleunigte und die Artgenossen unbedingt in Augenschein nehmen wollte. Er war noch neugieriger als Smoky.
    Das erste Dorf bestand aus wenigen Baracken, aus Steinen und Holz und mit Dächern aus Birkenrinde und Moos. Einige Kinder spielten im Schnee, als sie den Schlitten bremste, und der Häuptling, ein beleibter Mann mit großen silbernen Ohrringen, trat ihr entgegen. Er machte einen zurückhaltenden, beinahe furchtsamen Eindruck und musterte sie misstrauisch. Hinter ihm erschienen seine Verwandten, darunter seine drei Frauen und seine zwölf Kinder.
    »Was willst du hier, weiße Frau?«, fragte er ungewöhnlich direkt. Er sprach Englisch mit starkem Akzent und gebrauchte die vertraute Anrede.
    »Ich bin Clarissa Carmack«, stellte sie sich vor, verwundert darüber, dass er sie nicht in seine Hütte bat und zuerst über Belanglosigkeiten sprach, wie es die Höflichkeit geboten hätte. »Ich suche meinen Mann.« Sie berichtete in wenigen Worten, was geschehen war, beschrieb Alex so genau wie möglich und merkte schon beim Reden, dass er nicht das geringste Interesse zeigte, ihr zu helfen. Dennoch fragte sie: »Habt ihr ihn gesehen? War er in eurem Dorf?«
    Der Häuptling schüttelte unwirsch den Kopf. »Er war nicht hier.«
    »Ihr habt keinen weißen Mann gesehen?«
    »Wir haben die Eule gehört! Geh bitte!«
    Clarissa empfand die Worte wie einen Schlag ins Gesicht, die Bestätigung eines Urteils, das bereits der alte Indianer in den White Mountains gesprochen hatte. Die Eule, in den Märchen ihrer Kindheit eher ein weiser Vogel, in den Legenden der Indianer ein Todesbote, folgte ihr von einem Ort zum anderen. Wie ein eisiger Schatten hing er ihr im Nacken, noch kälter als der strenge Wind, der bei seinen Worten plötzlich auffrischte und durchs Lager fuhr.
    Mit einem stummen Gruß verließ sie das Dorf. Selbst die Huskys der Indianer schwiegen, als sie davonfuhr. Sie war froh, als sie die verängstigten Bewohner des Dorfes hinter sich gelassen hatte und wieder den frischen Fahrtwind im Gesicht spürte. Was hatte das alles zu bedeuten? Der Aberglaube einiger Wilder, die in der Vergangenheit verharrten, oder hockte die Eule tatsächlich in den Baumwipfeln und verbreitete ihre Kunde vom nahen Tod eines Menschen? Gab es denn keine wirksame Waffe gegen den Todesboten?
    Vielleicht die Liebe und die Hoffnung und der unerschütterliche Glaube an einen Gott, der so ein Unglück niemals zulassen würde. Sie schloss für einen Moment die Augen, um das Bild von der todbringenden Eule loszuwerden, und sah sie doch, als sie sich dem nächsten Dorf näherte. Ihre dumpfen Laute drangen unheilvoll durch die Dunkelheit und setzten sich in ihren Ohren fest. »Heya! Heya!«, versuchte sie, die Laute zu übertönen, doch kaum hörte sie auf, die Hunde anzutreiben, erklangen die quälenden Warnrufe von Neuem.
    Das zweite Dorf war ähnlich schäbig wie das erste, aber sie kannte Chief Leonard, der für Barnette als Fallensteller gearbeitet hatte, und dessen älteste Tochter, die sechzehnjährige Agnes, die einige Monate im Handelsposten beschäftigt gewesen war. Ihr Englisch war beinahe akzentfrei. Der Häuptling und seine Verwandten standen bereits vor ihren Hütten, als sie den Schlitten bremste. »Clarissa«, begrüßte er sie freundlich, aber reservierter als sonst.
    Sie verankerte den Schlitten und überreichte dem Häuptling einige ihrer Vorräte als Geschenk. »Chief Leonard … ich freue mich, dich zu sehen.« Er war ein untersetzter Mann mit kurzen Haaren und einer markanten Nase. Um seinen Hals spannte sich eine Kette aus bemalten Flussmuscheln. »Ich bin einen weiten Umweg gefahren, um mit dir zu sprechen. Darf ich eintreten?«
    Chief Leonard machte den Eingang frei und bat sie in seine Baracke, etwas widerwilliger als sonst, wie es ihr schien, und

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