Die Nacht der Wölfe
irgendwo am Yukon sein … oder jenseits des Flusses im Nordosten. In den Indianerdörfern war er nicht. Keiner der Bewohner hat ihn gesehen. Sie müssen mir helfen, ihn zu finden, Marshal!«
»Wir haben getan, was in unserer Macht stand, Ma’am.« Wieder dieser kalte, beinahe unbeteiligte Tonfall. »Leider ohne Ergebnis. Das Gebiet ist einfach zu groß, um dort einen einzelnen Menschen zu finden. Das würde nicht mal unserem Indianer gelingen.« Ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht. »Aber ich würde mir an Ihrer Stelle keine Sorgen machen. Ihr Mann ist ein erfahrener Fallensteller. Er lebt schon sehr lange in der Wildnis und weiß, wie man dort überlebt. Selbst ohne seine Huskys und seinen Schlitten. Er ist bewaffnet, Ma’am, und er versteht es, ein Feuer zu machen. Ihm kann gar nichts passieren. Sie werden sehen, in ein paar Tagen kommt er nach Hause und tut so, als wäre nichts gewesen. Fallensteller sind zähe Burschen.«
»Ich kenne meinen Mann«, erwiderte sie verstimmt. »Und ich hatte immer gedacht, es gehörte auch zu den Pflichten eines US Marshals, einer Bürgerin bei der Suche nach ihrem vermissten Mann zu helfen. Oder liege ich falsch?«
»Das haben wir getan, Ma’am. Ich weiß nicht, wo Sie die vergangenen Tage verbracht haben, in einem Indianerdorf nehme ich an …« Es klang abfällig. »Wir haben einen der gefährlichsten Verbrecher der letzten Jahre verfolgt, und unser Fährtensucher hat nicht nur nach ihren Spuren, sondern auch nach den Spuren Ihres Mannes gesucht. Leider hatten wir kein Glück. Wir haben weder den einen noch den anderen gefunden. Aber das ist kein Beinbruch«, beeilte er sich hinzuzufügen. »Wie gesagt, ich bin sicher, Ihr Mann kehrt in den nächsten Tagen zurück, und Frank Whittler und seine Männer können auch nicht ewig in der Wildnis bleiben. Irgendwann wagen sie sich aus ihrem Versteck, wenn sie nicht vorher erfrieren, und dann schnappen wir sie uns!«
»Einen der Männer habe ich heute Morgen begraben«, erwähnte Clarissa so beiläufig, als würde sie ihm viel Glück wünschen. Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Ich nehme jedenfalls an, dass es einer von Whittlers Männern war. Kurzes Haar, karierte Jacke, eine rote Brandnarbe am Hals …«
»Charlie Whipple!« Der Marshal blickte sie ungläubig an. »Die Narbe stammt von einem Brandeisen. Sie haben ihn … Sie haben ihn begraben?«
»Ich habe seine Leiche mit Steinen zugedeckt«, verbesserte sie sich, »zum Graben war der Boden zu hart.« Wäre nicht die Sorge um ihren Mann gewesen, hätte sie ihren Triumph vielleicht ausgekostet, so berichtete sie ohne jegliche Schadenfreude, wie sie den toten Verbrecher auf der Lichtung gefunden hatte. »Whittler hat ihn erstochen … Ich nehme jedenfalls an, dass er es war.«
»Zuzutrauen wäre es ihm«, erwiderte der Marshal. »Wo war das?«
»Am Yukon, ungefähr zwei Meilen westlich von Chief Leonards Dorf.«
Er blickte den Indianer an und erhielt ein Nicken als Antwort. »Spuren?«
»Ich hab keine gefunden. Gestern Nacht hat es geschneit.«
Der Marshal fluchte leise. »Und wir suchen die ganze Zeit im Osten nach ihm! Würde mich nicht wundern, wenn er seinen zweiten Komplizen auch noch umlegt, dann hat er das ganze Geld für sich und kann sich besser verstecken. Ich wette, er will bei irgendwelchen Indianern unterkriechen und, sobald sich die Gelegenheit ergibt, über die kanadische Grenze ins Yukon-Territorium rüber! Dort haben die Mounties das Sagen.« Er befürchtete wohl, die kanadische Polizei könnte den Ruhm, den gefährlichen Mörder festgenommen zu haben, für sich in Anspruch nehmen. Sein ungeduldiger Blick traf Clarissa. »Sie haben Chief Leonard und seine Leute nach ihm gefragt?«
»Ein junges Mädchen hat ihn gesehen. Vor zwei Tagen.«
»Dann kann er noch nicht weit sein.« Er drehte sich nach seinem Fährtensucher und den anderen Männern um. »Habt ihr das gehört? Frank Whittler und seine Männer wurden vor zwei Tagen am Yukon gesehen! Vielleicht holen wir sie noch ein!« Er lenkte seinen Schlitten an Clarissa und ihrem Schlitten vorbei, würdigte sie kaum noch eines Blickes. »Vorwärts! Nach Norden!«
»Und Alex?«, rief Clarissa ihm nach.
15
Clarissa war hin- und hergerissen. Am liebsten wäre sie mit den Männern nach Norden gefahren und hätte weiter nach Alex gesucht. Wenn er irgendwo verletzt im Schnee lag, brauchte er dringend Hilfe. Aber auch der Marshal hatte vielleicht recht: Alex war ein erfahrener
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