Die Nacht der Wölfe
ein Indianer oder ein anderer Fallensteller konnte ihn gefunden und verarztet oder seinen Körper mit Steinen bedeckt haben. Der Ruf der Eule konnte vieles bedeuten: dass nur ein Mann gestorben war oder dass mehrere Menschen vom Tod bedroht waren. Nicht mal der tapferste aller Krieger schaffte es, den Todesboten zu besiegen, behaupteten die Indianer.
Mit einem heiseren Zuruf, der ihr beinahe im Halse steckenblieb, trieb sie die Hunde an. Sie fuhr den gleichen Weg zurück, den sie gekommen war, und bog rechtzeitig vor den Indianerdörfern nach Süden ab. Unterwegs hoffte sie dem Marshal und seinen Männern zu begegnen, die inzwischen sicher neue Vorräte gefasst hatten und damit länger in der Wildnis aushalten würden. Nur dann konnten sie die Verbrecher festnehmen und Alex doch noch finden.
Eigentlich hätten sie längst auftauchen müssen, denn auch ihr Weg musste sie zuerst in die Indianerdörfer am Yukon River führen. Oder waren sie irgendwo anders auf die Spuren der Verbrecher gestoßen? Hatten sie Alex schon aufgegeben und suchten gar nicht mehr nach ihm? Waren sie nur noch hinter den Verbrechern her, um im Triumphzug mit ihnen nach Anchorage zurückzukehren? US Deputy Marshal Chester Novak war ein ehrgeiziger Mann, der schon in ihrer Blockhütte den Eindruck vermittelt hatte, nur an seiner eigenen Karriere interessiert zu sein. Warum sollte er seinen Erfolg durch die langwierige Suche nach einem Fallensteller in Gefahr bringen?
Durch diese quälenden Gedanken zusätzlich angestachelt, trieb sie ihre Huskys noch lauter und ungeduldiger an. Sie würde dem Marshal die Leviten lesen und, wenn es sein musste, ein eigenes Aufgebot zusammenstellen. Im Winter waren die meisten Goldsucher zur Untätigkeit verdammt, da musste es doch ein paar Männer geben, die bereit waren, sie zu unterstützen. Sie hatte sicher noch etwas Geld auf der Bank, mit dem man sie bezahlen könnte.
»Heya! Heya!«, schrie sie sich den Frust von der Seele. »Leg einen Zahn zu, Emmett, wir dürfen keine Zeit mehr verlieren!« Sie trieb die Hunde an, wollte so schnell wie möglich den Marshal und sein Aufgebot treffen, um endlich Klarheit zu haben. »Zeig mal, was du kannst, Emmett!«
Inzwischen war es Mittag geworden, und fahles Tageslicht lag über dem Trail. Nur noch wenige Wolken standen am Himmel, die meisten über den White Mountains im Osten, und pinkfarbenes Licht ergoss sich über die verschneiten Berge und Täler. Es war beinahe windstill. Eine ungewöhnlich friedliche Stimmung lag über dem Land, sie stand im krassen Gegensatz zu ihren Gefühlen, die eher von den dunklen Wolken über den White Mountains bestimmt wurden. Solange Alex nicht zurückkam, würde niemals die Sonne scheinen, nicht mal im Sommer, wenn es selbst nachts noch hell war. Ohne Alex war die Welt für sie nicht vollkommen und sie fühlte sich einsam und leer.
Sie schickte sich gerade an, eine kurze Rast einzulegen, etwas von dem Trockenfleisch zu essen, das Rose ihr mitgegeben hatte, und von dem Weidenrindentee zu trinken, als sie den Marshal und seine Männer kommen sah. Zu ihrem Erstaunen näherten sie sich nicht von Süden, sondern kamen über einen schmalen Jagdtrail, der ungefähr hundert Schritte vor ihr aus dem Wald führte und in ihren Trail mündete. Durch den lichten Birkenwald erkannte sie vier Schlitten. Der indianische Fährtenleser fuhr vornweg, dahinter der Marshal, seine beiden Gehilfen und die beiden Fallensteller, die sich ebenfalls einen Schlitten teilten. Das Abzeichen, das sich der Marshal – eitel, wie er war – an die Mütze gesteckt hatte, leuchtete silbern im schwachen Sonnenlicht.
»Marshal!«, rief sie so laut wie möglich. »Ich bin’s, Clarissa Carmack!«
Der Indianer hatte sie bereits gesehen und bremste sein Gespann auf dem Haupttrail. Seine Hunde gehorchten sofort. Hinter ihm blieb dem Marshal und seinen Männern gar nichts anderes übrig, als ebenfalls anzuhalten. Seine Huskys jaulten ungeduldig. Der Leithund eines Fallenstellers brach nach links aus und wollte sich mit Emmett anlegen, hatte damit aber wenig Erfolg. Clarissas Leithund brauchte nur die Zähne zu fletschen, um ihn davonzujagen.
»Ma’am«, begrüßte sie der Marshal. »Sie sind am Leben! Na, Gott sei Dank. Wir hatten uns schon Sorgen gemacht. Der Blizzard war nicht ohne!« Es klang nicht gerade mitfühlend. »Sie haben Ihren Mann nicht gefunden?«
Clarissa hatte keine Lust, ihm von ihrem Unfall und dem Aufenthalt bei den Indianern zu erzählen. »Er muss
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