Die Nacht der Wölfe
lieb war. Nur weil Betty-Sue ihnen geholfen und die Frau des Häuptlings verarztet hatte, akzeptierten sie die junge Schwester überhaupt.
»Sie ist eine gute Frau, und er ist ein guter Mann«, sagte der Häuptling. »Aber ich weiß nicht, ob es eine gemeinsame Zukunft für sie geben kann.«
»Sie ist stärker, als du denkst«, erwiderte Clarissa.
»Rede mit ihr«, bat er.
Nachdem die Frau des Häuptlings ihre Feldflasche mit frischem Kräutertee gefüllt hatte, brachen sie auf. Diesmal hatte Betty-Sue feuchte Augen, als sie das Dorf verließen. In Gedanken versunken, saß sie auf dem Schlitten und starrte in die Dunkelheit, wahrscheinlich war sie selbst am meisten überrascht davon, wie sehr sich ihre Welt in wenigen Tagen verändert hatte. Vor gar nicht langer Zeit hatte sie noch in einem Krankenhaus in San Francisco gearbeitet und sich heimlich mit einem verheirateten Arzt getroffen, in der irrigen Annahme, er würde für sie seine Frau verlassen, und jetzt hatte es sie plötzlich wirklich erwischt. Wahrscheinlich erkannte sie erst jetzt, was wahre Zuneigung war.
Um die Mittagszeit rasteten sie unter Bäumen am Waldrand und aßen von dem Käse und dem Speck, den Clarissa in ihrem Proviantsack mit sich führte. Dazu gab es trockene Biskuits, die sie in dem Kräutertee aufweichten, den sie von der Frau des Häuptlings bekommen hatten. Sie aßen und tranken schweigend, jede mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, bis Betty-Sue einen Bissen mit Tee runterspülte und sagte: »Es tut mir leid … das mit deinem Mann. Es tut mir leid. So früh sollte kein guter Mann sterben.«
Clarissa bedankte sich mit einem schwachen Lächeln. »Ich werde ihn wiedersehen«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu ihr. »Eines Tages werde ich ihn wiedersehen. Wenn nicht auf der Erde, dann im Himmel oder auf der anderen Seite, wie die Indianer sagen. Dort gibt es keine Verbrecher. Weder unser Gott noch der Große Geist der Indianer würden einen Mann wie Frank Whittler hereinlassen. Er hat unser Leben zerstört, er hat …« Sie weinte wieder.
Betty-Sue stellte ihren Becher auf die Ladefläche und umarmte Clarissa so vorsichtig, als wäre sie zerbrechlich. »Der Marshal wird ihn erwischen, und dann bekommt er seine gerechte Strafe. Ich weiß, dass macht deinen Alex nicht wieder lebendig, aber ich weiß noch, was der Pfarrer bei der Beerdigung meines Großvaters sagte. In allem, was der Herrgott tut, liegt ein tieferer Sinn. Du darfst nicht an seiner Güte zweifeln. Auch ohne Alex kannst du ein glückliches und zufriedenes Leben führen, auch wenn du das jetzt vielleicht nicht glaubst, aber wie du schon sagst: Irgendwann wirst du deinen geliebten Mann wiedersehen, und dann werdet ihr bis in alle Ewigkeit zusammen sein.«
»Ich … habe ihn … so geliebt«, stammelte sie, von mehrmaligem Schluchzen unterbrochen, »er hat mir mehr als alles andere auf dieser Welt bedeutet.«
»Es wird alles gut«, erwiderte Betty-Sue leise.
Clarissa hörte einen Wolf in weiter Ferne heulen und hob schniefend den Kopf. »Bones?«, flüsterte sie. Nachdem sie ihr Taschentuch hervorgekramt und sich mehrmals geschnäuzt hatte, blickte sie suchend zu den fernen Berghängen empor. »Das war Bones, nicht wahr? Er will mir irgendetwas sagen.«
»Bones?« Betty-Sue blickte sie verwundert an.
»Ach, nichts …«, wehrte Clarissa ab.
Auch um keine weiteren Fragen beantworten zu müssen, ging sie zu den Huskys und kniete neben Emmett nieder. Sie schloss ihn zärtlich in die Arme. »Alex ist tot«, sagte sie, »jetzt wissen wir es sicher. Er ist wie ein Held gestorben, auf der Suche nach gefährlichen Verbrechern, die es vor allem auf mich abgesehen hatten. Er war ein tapferer Mann.« Sie ließ von ihrem Leithund ab und kraulte ihn zwischen den Ohren. »Aber Betty-Sue hat recht. Es muss auch ohne Alex weitergehen. Wir dürfen jetzt nicht aufgeben, Emmett!«
Emmett schien ihr mit einem leisen Jaulen zu verstehen geben, dass er sie verstanden hatte, und bellte sogar verhalten, ein Zeichen dafür, dass er sich durch nichts unterkriegen ließ. Sie ging zu den anderen Hunden und verteilte freundschaftliche Klapse. »Alex will, dass wir so weitermachen wie bisher, das weiß ich. Er will, dass wir in der Wildnis bleiben und uns nicht in irgendeiner Stadt verkriechen und Trübsal blasen. Und was meint ihr? Sind wir stark genug, unseren Lebensunterhalt ohne Mann zu verdienen? Kommen wir auch allein zurecht?« Sie straffte die Führungsleine und kraulte Chilcos
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