Die Nacht der Wölfe
zehn Minuten im Krankenhaus. Ich habe keine Lust, die ganze Arbeit allein zu machen. Haben wir uns verstanden, Schwester?«
»Natürlich, Sir«, antwortete Betty-Sue gehorsam.
Clarissa wartete, bis der Doktor ins Haus gegangen war, und wandte sich mit eindringlicher Stimme an Betty-Sue: »Sei vorsichtig, Betty-Sue! Du hast gehört, was passieren kann, wenn man sich in den falschen Mann verliebt. Ich möchte nicht, dass man dich mit Schimpf und Schande davonjagt.«
»Ich mag ihn aber … Mir ist es egal, welche Hautfarbe er hat.«
»Vielleicht bildest du dir alles nur ein. Du hast noch nie einen Indianer getroffen und bewunderst ihn, weil er so … so männlich aussieht und dir Komplimente macht, die du von einem weißen Mann niemals hören würdest … weil er mit der Natur vertraut ist und ein guter Jäger ist und … Auch Matthew ist nur ein Mann, Betty-Sue, und wer weiß, was du in vier Wochen sagst.«
Betty-Sue nickte schwach. »Glaubst du, darüber habe ich nicht auch schon nachgedacht? Im Krankenhaus war es doch ähnlich, da schwärmte jeder von den ›Göttern in Weiß‹, als ob Ärzte etwas ganz Besonderes wären. Und wer fällt als Erste darauf rein? Ich natürlich, und ein paar Wochen später lässt der Arzt mich fallen wie eine heiße Kartoffel, und ich muss Kalifornien verlassen, wenn ich noch eine Anstellung bekommen will. Ich weiß, wie das ist, glaube mir, und ich hatte auch fest vor, mich niemals wieder zu verlieben, schon gar nicht in einen Indianer, aber dann ist es passiert. Es ist einfach passiert, und ich glaube langsam, ich hab ein Talent, mich in die Nesseln zu setzen.«
»Sei vorsichtig!«, warnte Clarissa, die natürlich merkte, dass sie ihr den Indianer nicht ausreden konnte. »Triff dich mit ihm, wenn du deine Runde drehst, und küss ihn meinetwegen, aber lass dich auf keinen Fall auf was anderes ein, sonst gibt’s nur ein böses Erwachen. Vielleicht lässt deine Begeisterung mit der Zeit von ganz allein nach. Und wenn nicht, lass dich erst mit Matthew in der Stadt sehen, wenn du dir absolut sicher bist und in Kauf nehmen willst, dass du deine Arbeit verlierst und von den meisten Leuten geschnitten wirst.« Sie merkte, dass sie Betty-Sue eine Predigt hielt, und fügte lächelnd hinzu: »Jetzt klinge ich wahrscheinlich schon wie deine Mutter.«
»Wie meine Tante«, erwiderte Betty-Sue mit spöttischem Unterton, »die wusste auch immer alles besser.« Sie umarmte Clarissa zum Abschied. »Ich danke dir, Clarissa. Ohne dich wäre ich meine Stellung sicher schon los. Wenn du willst, frage ich den Doc, ob wir die nächste Runde wieder gemeinsam drehen dürfen. Du könntest mir beim Zähneziehen zur Hand gehen.«
Clarissa lachte. »Gute Idee.«
»Mrs Carmack! Ma’am! Gut, dass Sie noch hier sind!« Doc Boone kam auf die Straße gelaufen, einen Zettel in der Hand. »Eine Dame hat nach Ihnen gefragt. Kam gestern mit dem Hundeschlitten hier vorbei und konnte genauso gut damit umgehen wie Sie. »Eine gewisse …« Er blickte auf den Zettel. »Eine gewisse Dolly Kinkaid. Ich hab ihr gesagt, wo Sie wohnen. War das okay?«
»Dolly Kinkaid? Dolly Kinkaid aus Dawson City?«
»Keine Ahnung, woher sie kam. Sie klang wie eine Engländerin.«
»Dolly! Mein Gott!«
»Eine gute Freundin?«, fragte Betty-Sue fast ein wenig eifersüchtig.
»Wir waren zusammen in Skaguay und am Klondike«, erklärte Clarissa. »Auch ihr Mann wurde von Verbrechern ermordet. Sie hatten erst ein paar Tage vorher auf dem Schiff geheiratet. Sie kommt aus England … Eine der tapfersten Frauen, die ich kenne. Und mit einem Hundeschlitten kann sie jetzt wohl auch umgehen.« Sie blickte den Doktor an. »Wie lange ist das her?«
»Ungefähr zwei Stunden.«
»Danke, Doc. Und nehmen Sie Betty-Sue nicht zu hart ran … Die Fahrt war ziemlich anstrengend.« Sie verabschiedete sich von der Schwester, stieg auf ihren Schlitten und wendete den Schlitten hinter einem ächzenden Fuhrwerk.
Den Bankdirektor, der auf dem Gehsteig vor seiner Bank stand, als sie vorbeifuhr, ignorierte sie. Über den Tod ihres Mannes hatte sie ihre Schulden beinahe vergessen, und sein Anblick rief nur weitere düstere Gedanken in ihr wach. Sie war froh, dass er sie nicht anhielt, und beeilte sich, aus der Stadt zu kommen. »Vorwärts! Lauft, ihr müden Gesellen!«, trieb sie die Hunde an. Sie überholte das Fuhrwerk, fuhr beinahe einen Hund über den Haufen und lenkte ihren Schlitten über den Trail zum Ufer des Chena River hinab.
Über den fernen
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