Die Nacht der Wölfe
Sie bereit, Ma’am?«, fragte er höflich.
Clarissa rieb sich die Tränen aus den Augen und nickte zögernd. Ihr Blick war in die Tiefe gerichtet, als die Fackel nach unten fiel, in einem Funkenregen gegen die vereiste Wand prallte und sich mehrmals überschlug, bevor sie weiter nach in die Tiefe trudelte. Ihr Licht spiegelte sich auf den vereisten Wänden und erfüllte den Abgrund mit gespenstischer Helligkeit, die den gähnenden Schlund des erstarrten Monstrums noch unheimlicher und tiefer aussehen ließ. Keine Spur von Alex, nicht der geringste Hinweis auf einen Menschen, der in die Felsspalte gestürzt sein konnte. Kein Kleiderfetzen und kein Blut an den schroffen Wänden, nur nackter Fels und blankes Eis. Alex war tot. Niemand überlebte einen solchen Sturz. Er lag irgendwo auf dem Grund der Spalte, so tief, dass ihn nicht einmal die brennende Fackel erreicht hatte.
Der Indianer kniete neben ihr und riss ein Streichholz an. Indem er die Flamme mit der hohlen Hand beschützte, sah er sich die Ränder der Felsspalte genauer an. Clarissa folgte seinem Blick. »Da!«, rief er und deutete auf die Eissplitter direkt neben ihrer linken Hand und einige Flecken auf dem Fels, die wie Blut aussahen. »Dort könnte er mit dem Kopf aufgeschlagen sein.«
»Er hat den Sturz nicht überlebt.«
Matthew warf das erloschene Streichholz in die Felsspalte. »Nein … niemand überlebt einen solchen Sturz. Die Felsspalte ist ihm zum Grab geworden. Es tut mir leid, dass wir keine besseren Spuren gefunden haben, Ma’am.« Er schloss für einen Augenblick die Augen und erhob sich bedächtig. »Betty-Sue und ich warten beim Schlitten. Lassen Sie sich Zeit, Ma’am.«
Clarissa wartete, bis Betty-Sue und der Indianer gegangen waren, und gab sich ihrem Schmerz hin. Der Medizinmann hatte nur das in seinen Träumen erlebt, was sie gerne hören wollte, und ihr falsche Hoffnungen gemacht. Alles deutete darauf hin, dass Alex von einem der Verbrecher erschossen oder am Kopf verletzt worden, vom Schlitten gefallen, den Hang hinabgestürzt und in die Felsspalte gefallen war. Wahrscheinlich war er schon tot oder zumindest bewusstlos gewesen, als er gegen den Felsrand geprallt war. Alex war tot, es gab keine Rettung mehr für ihn, er war endgültig aus ihrem Leben gegangen.
Es war vor allem die Vorstellung, dass Alex für immer auf dem eisigen Grund der Felsspalte liegen würde, die ihr die Tränen in die Augen schießen ließ. Die Vorstellung, ihn in ewiger Dunkelheit zu wissen, war beinahe zu viel für sie, erfüllte sie mit einem grenzenlosen Schmerz, der sich in jeder Faser ihres Körpers festzusetzen schien. Nur der tröstliche Gedanke, seine Seele könnte dem eisigen Gefängnis entkommen sein und im nächtlichen Nordlicht für sie leuchten, gab ihr ein wenig Kraft. »Alex! Mein Alex!«, flüsterte sie.
Sie vermochte nicht zu sagen, wie lange sie an seinem offenen Grab gesessen hatte, als sie nach einem letzten Gebet aufstand und sich zum Gehen wandte. Das Schneetreiben hatte nachgelassen, und zu ihrer Überraschung verschoben sich ausgerechnet in diesem Augenblick die Wolken, und weit im Osten war in allen Farben schillerndes Nordlicht zu sehen. Clarissa wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und blickte staunend zum Himmel empor. Sagte ihr Alex, dass es ihm gut ging und dass er irgendwann wieder mit ihr vereint sein würde? Gab ihr Gott ein Zeichen? Bedeuteten die farbenfrohen Muster, dass ihre Zukunft nicht ganz so dunkel war, wie es im Augenblick aussah?
Von neuem Mut beseelt, auch diesen schweren Schicksalsschlag zu überstehen, stapfte sie zum Schlitten zurück. Matthew saß auf der Ladefläche neben Betty-Sue, die sich bereits in ihre Decken gewickelt hatte. »Danke«, sagte Clarissa. In der Ferne leuchtete das Nordlicht noch immer in zarten Farben.
Nachdem sie die Schlitten gewendet hatten, fuhren sie zum Indianerdorf zurück. Unterwegs sprach keiner von ihnen ein Wort. Clarissa, weil sie mit ihren Gefühlen zu kämpfen hatte, und Betty-Sue und Matthew, weil sie spürten, dass jedes Wort die Andacht ihrer Begleiterin gestört hätte.
Erst im Indianerdorf gelang es Clarissa, ihren Kummer für eine Weile zu verdrängen. Sie ließ sich von der Frau des Häuptlings, der es schon wesentlich besser ging, zu einem Becher heißen Kräutertee überreden und wechselte ein paar Worte mit dem Häuptling, während Betty-Sue und Matthew sich um die Hunde kümmerten und sich dabei wahrscheinlich näherkamen, als es vielen Dorfbewohnern
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