Die Nacht der Wölfe
dickes Fell. »Na, klar schaffen wir das! Ich will euch was sagen: Wir gewinnen sogar das Alaska Frontier Race für ihn und widmen ihm den Siegerpokal!«
Betty-Sue hatte inzwischen die Becher und die Feldflasche im Vorratssack verstaut und sich auf der Ladefläche in ihre Decken gewickelt. Ihre Augen glänzten zufrieden, ob aus Dankbarkeit gegenüber Clarissa, weil sie so tapfer gegen ihren Kummer ankämpfte, oder weil ihre Gedanken wieder bei Matthew waren, wusste Clarissa nicht. »Bis heute Nachmittag sind wir in Fairbanks«, sagte sie nur, um die plötzliche Stille zu füllen, stieg aufs Trittbrett und feuerte die Hunde an: »Giddy-up, Emmett! Vorwärts, ihr Lieben!«
20
Jedes Mal, wenn Clarissa nach Fairbanks kam, schien die Stadt gewachsen zu sein. Schon aus der Ferne waren die vielen Lichter zu sehen, erleuchtete Häuser, vor allem aber Zelte, die sich bis zum Waldrand erstreckten. Der Rauch unzähliger Feuer hing wie eine Dunstglocke über der Stadt. Wie ein Fremdkörper lag sie in der Wildnis, eine schwelende Wunde in urwüchsiger Natur.
Clarissa mochte die Stadt nicht, sie war in letzter Zeit viel zu oft dort gewesen und sehnte sich nach der Ruhe und Abgeschiedenheit ihrer Blockhütte. Noch vor wenigen Monaten hatte Fairbanks lediglich aus dem Handelsposten und einem Schuppen bestanden, und kaum einer der jetzigen Bewohner hätte sich wohl vorstellen können, in der eisigen Wildnis des Hohen Nordens zu überwintern. Doch die Goldfunde hatten alles verändert. Seitdem die Kunde von dem begehrten Edelmetall nach Seattle und San Francisco gedrungen war, strömten immer mehr Menschen nach Norden, zum Teil dieselben Goldsucher, die schon am Klondike ihr Glück versucht hatten und kläglich gescheitert waren.
Die Helligkeit des Tages war bereits verblasst, als sie den Schlitten über die Hauptstraße lenkte. Vor zahlreichen Häusern und von den Vorbaudächern hingen Petroleumlampen und warfen unruhige Muster auf den aufgewühlten Schnee. Außer einigen Goldgräbern, die sich im Saloon aufwärmen und bei einem Bier oder Whiskey die Langeweile des Winters vergessen wollten, waren kaum Menschen auf der Straße. Wer zeit seines Lebens in einem warmen Haus in den Staaten gelebt hatte, musste sich erst an die beißende Kälte in Fairbanks gewöhnen. So richtig wohl fühlten sich nur die Schlittenhunde, die neben vielen Häusern und Zelten angebunden waren und ihr tägliches Jaulkonzert anstimmten. Manche Leute behaupteten, man könne die Uhr nach ihnen stellen, so pünktlich würden sie jeden Nachmittag zu jaulen anfangen.
Vor dem Haus von Doc Boone hielt Clarissa den Schlitten an, doch statt des Doktors kam George M. Hill, der Redakteur der Weekly Fairbanks News, über die Straße gerannt. Er musste in aller Eile sein Büro verlassen haben. Sein Mantel stand offen und flatterte um seine hagere Gestalt, und auf Mütze und Handschuhe hatte er in der Eile ganz verzichtet. Noch im Laufen kramte er Block und Bleistift aus der Tasche. »Mrs Carmack! Ma’am!«
Clarissa half Betty-Sue vom Schlitten und blickte dem Redakteur erstaunt entgegen. »Mister Hill! Was ist passiert? Warum haben Sie es denn so eilig?«
»So geht es allen Zeitungsleuten«, antwortete er atemlos, »immer auf der Jagd nach neuen Meldungen und interessanten Geschichten.« Sein angedeutetes Lächeln verschwand, und er holte tief Luft, bevor er sagte: »Ich habe gehört, was mit Ihrem Mann passiert ist. Mein herzliches Beileid, Ma’am. Der Fährtenleser des Marshals behauptet, er wäre in den Bergen verunglückt.«
»Frank Whittler oder einer seiner Komplizen hat auf ihn geschossen und ihn in eine Felsspalte getrieben«, verbesserte sie ihn. »Er ist tot, Mister Hill. Diese Verbrecher haben ihn kaltblütig ermordet. Er war der beste Mann, den man sich vorstellen kann, ein erstklassiger Fallensteller und ein liebevoller Ehemann, und er starb bei dem Versuch, einen der gemeinsten Verbrecher, den es jemals in dieses Land verschlagen hat, aufzuspüren und festzunehmen. Selbst wenn man Frank Whittler drei Mal hängen könnte, würde das den Verlust nicht wettmachen. Schreiben Sie das, Mister Hill, das wäre mir lieber als die salbungsvollen Worte, die man sich auf Beerdigungen anhören muss.«
Der Redakteur hatte eifrig mitgeschrieben, offensichtlich zufrieden mit ihrer ausführlichen Antwort, und lächelte schon wieder. »Darf ich fragen, ob Sie jetzt in die Stadt ziehen werden? Ich meine, eine alleinstehende …« Er hüstelte verlegen. »… eine
Weitere Kostenlose Bücher