Die Nacht der Wölfe
alleinstehende Witwe wird doch wohl kaum in der Wildnis wohnen bleiben. Selbst viele Männer könnten dort nicht überleben.«
»Genau das gedenke ich aber zu tun«, erwiderte Clarissa beinahe trotzig. Vergessen war ihre Überlegung, nach Dawson City zu ziehen und bei ihrer Freundin Dolly im Roadhouse zu arbeiten. Sie würde ihre Blockhütte nicht verlassen, schon weil sie dort Alex noch immer spüren konnte, und weil sie die Einsamkeit liebte, selbst wenn es keinen Mann mehr gab, mit dem sie diese Einsamkeit teilen konnte. »Ich habe meinen Mann oft genug auf seinen Jagdausflügen und beim Ablaufen der Fallen begleitet. Ich weiß, wie man Wild schießt und Fallen auslegt. Ich werde sicher nicht verhungern.«
Der Doktor war aus dem Haus getreten, er trug einen Mantel über seinem weißen Kittel und eine Pelzmütze auf den schlohweißen Haaren, und Clarissa wollte sich ihm bereits zuwenden, als der Redakteur noch einmal nachhakte: »Und jetzt haben Sie Schwester Betty-Sue aus der Wildnis zurückgeholt.« Er blickte die Krankenschwester an. »Wir haben uns große Sorgen um Sie gemacht, Schwester. Darf ich fragen, wo Sie waren? Was ist passiert, Schwester?«
»Nichts Aufregendes, Mister. Ich bin lediglich meiner Arbeit nachgegangen. Ich wurde in ein Indianerdorf gerufen. Ich musste der Frau des Häuptlings einen schmerzenden Backenzahn ziehen. Einer ihrer Verwandten holte mich mitten in der Nacht, und ich wollte den Doc nicht wecken.« Sie lächelte. »Ich glaube kaum, dass diese Nachricht es wert ist, gedruckt zu werden.«
Der Redakteur erwiderte ihr Lächeln. »Wirklich schade … und ich dachte, Sie hätten sich in einen Häuptlingssohn verliebt und wären mit ihm durchgebrannt. Solche Geschichten mögen die Leute. Man muss die Gefühle der Leute ansprechen, sagte mein ehemaliger Chefredakteur immer. ›Emotionen‹!«
»Darauf würde ich nicht wetten, George!«, mischte sich der Doktor ein. »Mit so einer Meldung würden Sie nur einen Skandal auslösen. Eine weiße Krankenschwester und ein tapferer Häuptlingssohn … So eine Romanze passt vielleicht in eine dieser Dime Novels, die man jetzt in den Staaten liest, aber in der Wirklichkeit sieht das ganz anders aus. In einem Krankenhaus in Anchorage gab es mal eine Krankenschwester, die verliebte sich in einen Chinesen. Als es herauskam, wollte sich kaum noch einer von ihr behandeln lassen. Als sie sich von ihm trennte, war es zu spät. Das Krankenhaus hatte ihr bereits gekündigt. Sie zog nach San Francisco oder Seattle, soweit ich weiß.«
»Das wäre eine Story!«, rief der Zeitungsmann begeistert.
Doc Boone lachte. »Sie haben jetzt genug Futter, Mister Redakteur. Schreiben Sie lieber was über den Goldrausch in Nome, da soll noch mehr Gold liegen als hier. Vielleicht werden wir dann einige dieser Störenfriede los, die jeden Tag im Saloon verbringen und sich die Nasen blutig schlagen.«
»Was wollen Sie, Doc? Blutige Nasen bedeuten doch Arbeit für Sie.«
Der Redakteur verschwand und war wahrscheinlich froh, wieder in sein beheiztes Büro zu kommen. Doc Boone wandte sich an die beiden Frauen. »Danke, dass Sie meine Schwester zurückgebracht haben, Mrs Carmack«, sagte er zu Clarissa. Und zu Betty-Sue: »Ich habe Mrs Carmack versprochen, Ihnen keine Vorwürfe zu machen, aber bevor Sie sich wieder auf ein solches Abenteuer einlassen, möchte ich Sie doch bitten, mir Bescheid zu sagen, ganz egal, wie spät es ist.« Seine Miene entspannte sich. »Nun ja, wenigstens haben Sie sich nicht in einen Häuptlingssohn verliebt. In meinen Bericht werde ich schreiben, dass Sie einem Goldsucher den Backenzahn gezogen haben und dass der arme Mann vor Schmerzen kaum noch stehen konnte. Das macht sich besser. Die Wahrheit würde nur zu Diskussionen führen. Wie gesagt, der Civil Service hat es nicht so gern, wenn wir Indianer behandeln.«
Betty-Sue wollte etwas Scharfes erwidern, aber Clarissa legte ihr rasch eine Hand auf den Arm. »Tut mir leid, Doc«, sagte die Schwester daraufhin, »aber ich glaube kaum, dass der Civil Service damit einverstanden wäre, wenn Indianer sterben, weil wir sie nicht behandelt haben.« Sie blickte zum Büro der Weekly Fairbanks News hinüber. »Stellen Sie sich vor, die News erscheint mit der Schlagzeile: ›Herzloser Arzt lässt hilflose Indianer sterben!‹«
»Und ich dachte, Sie sind eine schüchterne junge Frau, die sich aus solchen Diskussionen heraushält«, sagte der Doktor lachend, während er in sein Haus zurückkehrte. »In
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