Die Nacht der Wölfe
in San Francisco eingelassen? Zwanzig Prozent Heilungschancen waren doch immerhin ein Hoffnungsschimmer, ein Rettungsanker, nach dem er hätte greifen sollen. Sie wäre bestimmt an seiner Seite geblieben, selbst wenn er nach der Operation behindert gewesen wäre. Nichts hätte ihre Liebe zerstören können. Hatte er denn tatsächlich geglaubt, sie würde seine Krankheit als Last empfinden? Hatte er das wirklich geglaubt?
Auf der anderen Seite der Lichtung bewegte sich etwas. Ein dunkler Schatten hob sich gegen den Schnee ab, verharrte plötzlich und schien nur darauf zu warten, dass sie auf ihn aufmerksam wurde. Sie trat aus dem Lichtschein der Lampe, die neben der Tür vom Roadhouse hing, und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Der Schatten kam ihr einige Schritte entgegen, wartete dann wieder, bis auch sie sich bewegte und durch den tiefen Schnee abseits des Trails stapfte. Sie ahnte bereits, mit wem sie es zu tun hatte, dann fiel blasses Mondlicht auf graues Fell, und sie war sich sicher. »Bones!«, flüsterte sie. »Warum hast du zugelassen, dass Alex uns verlässt? Warum hast du mir nicht verraten, was mit ihm ist? Er hätte zu dem Professor gehen und sich operieren lassen können. Warum nur, Bones?«
Der Wolf kam einige Schritte näher, sodass sie sein Gesicht sehen konnte, die lange Schnauze, die weißen Flecken auf seinem Fell, die schräg stehenden gelben Augen, die keine Antworten auf ihre Fragen bereithielten. Es war so, wie es war. Bones mochte ihr Schutzgeist sein, wie die Indianer behaupteten, und ihr mehrfach das Leben gerettet haben, aber es gab keine Garantie dafür, dass er immer zur Stelle war, wenn sie sich in Not befand, als wäre er ein Bote des Großen Geistes, der ebenfalls großes Unglück geschehen ließ und sogar Frauen und Kinder in den Tod schickte. Warum auch der Gott des weißen Mannes so handelte, hatte ihr nicht einmal ihr Pfarrer in Vancouver sagen können. »Ohne Leid kann es auch kein Glück und keine Zufriedenheit geben«, hatte er behauptet, eine Antwort, die sie nur noch mehr verwirrt hatte.
»Bones!«, rief sie mit gedämpfter Stimme. »Sag mir, ob Alex mir zuliebe in den Tod gegangen ist! Ich will es wissen, Bones! Ich muss es wissen.«
Der Wolf ließ nicht erkennen, ob er sie verstanden hatte, blieb weiterhin im Schnee stehen, die Ohren gespitzt, den Schweif erhoben, doch plötzlich hob er den Kopf und jaulte so laut und durchdringend, dass sie erschrocken einen Schritt zurückwich und beinahe zu Boden fiel. Als sie sich wieder in der Gewalt hatte, war er verschwunden, als hätte es ihn niemals gegeben.
»Alles in Ordnung, Ma’am?«, rief eine männliche Stimme.
Sie drehte sich um und sah den Wirt in der Tür stehen. »Alles in Ordnung, Mister. Ich wollte mir nur ein wenig frische Luft um die Nase wehen lassen.«
»Und ich hätte schwören können, ich hätte einen Wolf gehört«, sagte der Wirt.
25
Clarissa erreichte die heimatliche Blockhütte am späten Abend des darauffolgenden Tages. Sie war langsamer gefahren, hatte mehrere Pausen eingelegt und den Mond angestarrt, als könnte er ihre Fragen beantworten. Sie hatte sich bei Emmett ausgeweint, der ebenso wenig eine Antwort wusste wie sie. Natürlich machte es keinen Unterschied, ob Alex den Tod gesucht hatte oder von Frank Whittler und seinen Kumpanen in eine Falle gelockt worden war, er war tot und niemand konnte daran etwas ändern. Aber die Antwort hätte sie vielleicht ruhiger schlafen lassen. Es war schon schlimm genug, dass seine Leiche auf dem Grund der Felsspalte lag, und es kein Grab gab, an dem sie trauern konnte.
So sehr sie sich auch anstrengte, sie wurde die quälenden Gedanken nicht los und war so abgelenkt, dass sie vor Fairbanks beinahe den falschen Trail genommen hätte. Irgendetwas störte sie, ein kleines Teil, das nicht in das Puzzle passte. Sie wusste nur noch nicht, welches. Je näher sie ihrer Hütte kam, desto klarer erschien es ihr, dass sie etwas übersehen, einen Gedanken falsch eingeordnet oder falsch bewertet hatte. Nur konnte sie es nicht benennen. »Bones! Warum hilfst du mir nicht?«, rief sie.
Als sie zu Hause ankam, kümmerte sie sich wie gewohnt um die Huskys. »Tut mir leid, dass ich mich so seltsam benommen habe, Emmett«, sagte sie zu ihrem Leithund, »aber in den letzten Tagen ist einfach zu viel auf mich eingestürzt. Du bist mir doch nicht böse?« Sie kraulte Emmett ausgiebig zwischen den Ohren und liebkoste auch die anderen Hunde mehr als sonst,
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