Die Nacht der Wölfin
das bestehende Rudel eliminieren und dann ein eigenes gründen; vermutlich schwebte ihm dabei eine Art Werwolfmafia vor. Über die Details war Cain sich nicht im Klaren, und sie interessierten ihn auch nicht. Und was Marsten betraf, so hatte Cain keine Ahnung, warum er sich dem Unternehmen angeschlossen hatte – und auch diese Frage berührte ihn nicht sonderlich.
Daniel hatte den Plan, neue Mitglieder zu rekrutieren, entwickelt. Er hatte die Recherchen betrieben, die Kandidaten gefunden und eine psychopathische Version des Paten gegeben – er hatte ihnen ein Angebot gemacht, das sie nicht ausschlagen konnten. Wenn sie ihm halfen, ein paar alte Feinde auszuschalten, würde er ihnen den Körper des perfekten Killers verschaffen. Keiner der Kandidaten hatte abgelehnt. Danach hatte Daniel jedem seiner Gefährten einen neuen Rekruten zugeteilt. Daniel selbst hatte Thomas LeBlanc gebissen und ausgebildet. Marsten hatte Scott Brandon übernommen. Cains Protegé hatten wir noch nicht kennen gelernt. Offenbar handelte es sich um einen Mann namens Victor Olson, der an dem Tag, an dem Cain sich von uns durch den Wald jagen ließ, im Auto gewartet hatte. Jeremy fragte Cain, was Olson in seinem bisherigen Leben getrieben hatte. Das wäre eigentlich meine Frage gewesen, und ich glaube, Jeremy stellte sie nur, um mir einen Gefallen zu tun … und weil er wusste, dass ich zuhörte. Cain war sich auch hier über die Details nicht ganz klar; er interessierte sich für Olsons Vergangenheit ebenso wenig wie für alles andere, das ihn nicht unmittelbar betraf. Er wusste nur, dass Olson im Gefängnis gewesen war, weil er ›mit ein paar Mädchen rumgemacht‹ und eins von ihnen getötet hatte. Anscheinend also ein Vergewaltiger auf dem besten Weg dazu, ein Killer vom Typ Thomas LeBlanc zu werden. Nicht gerade ein erfahrener Mörder – aber Daniel musste an sein Potenzial geglaubt haben. Immerhin hatte er Cain eigens bis nach Arizona geschickt, um Olson aus dem Gefängnis zu holen.
Nachdem Cain unschädlich gemacht war, hatten wir es jetzt also nur noch mit zwei erfahrenen Mutts und zwei Neurekrutierten zu tun. Richtig? Schön wär's. Wie gesagt, Koenig war noch nicht einmal eingetroffen. Sein Rekrut war noch dabei, sich von der Wandlung zu erholen, aber sie würden bald in Bear Valley sein. Die Typen zu bekämpfen war, als legte man sich mit einer Hydra an. Jedes Mal, wenn wir einen Kopf abschlugen, tauchten ein paar neue auf. Clay versuchte noch mehr aus Cain herauszubekommen, ging aber nicht bis zum Äußersten. Bisher hatte Cain nicht versucht, uns etwas vorzuenthalten, und so war es unwahrscheinlich, dass er jetzt damit begann. Immerhin ging es um seinen Kopf. Er hätte alles gesagt, um sich die Folter zu ersparen, selbst wenn es bedeutete, dass er seine Mitverschwörer damit zum Tode verurteilte. Die Loyalität eines Mutts ist ein wahrhaft erhebendes Schauspiel.
Es war nach zehn, als Jeremy aus dem Keller heraufkam. Er betrat das Arbeitszimmer, wo ich mich in seinem Stuhl zusammengerollt hatte.
»Noch irgendwas?«, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf, und er kehrte in den Keller zurück. Ich hörte einen Ruf, ein gedämpftes Geräusch, halb wütend, halb flehend. Dann Stille. Sekunden später öffnete sich die Kellertür, und ich hörte Jeremys Schritte, als er durch die Hintertür in den Garten hinausging. Ich wusste, dass ich ihn jetzt eine Weile in Frieden lassen sollte. Als sich die Tür zum zweiten Mal öffnete, spähte ich in den Gang hinaus. Clay rieb sich mit der Hand übers Gesicht. Blutspritzer sprenkelten sein Hemd. Er sah erschöpft aus, als habe er Cain die letzten vier Stunden über geschlagen, statt den stummen Vollstrecker zu spielen. Als er mich sah, brachte er ein mattes Lächeln zustande.
»Hey.«
»Fertig?«, fragte ich.
»Yeah. Er ist tot. Wir bringen ihn morgen weg. Im Moment ist er unten im Abstellraum.« Er rieb sich den Nacken. »Hast du gegessen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Tonio hat vorhin einen Eintopf gemacht. Willst du eine Schale?«
»Im Moment will ich eine Dusche, aber wenn du was davon heiß machst – ich bin zurück, bevor es fertig ist. Jeremy wird keinen Hunger haben, du bist also auf mich angewiesen. Okay?«
Ich nickte, und er ging zur Treppe.
Eine Stunde später gingen Clay und ich ins Arbeitszimmer und trafen dort Jeremy an, der mit geschlossenen Augen zurückgelehnt in seinem Sessel saß. Er öffnete ein Auge zur Hälfte, als wir hereinkamen.
»Tut mir Leid«, sagte ich.
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