Die Nacht der Wölfin
einem versteckten Winkel des Staates New York in der Nähe einer Kleinstadt namens Bear Valley. Als mein Taxi das Flughafengelände verließ, war es bereits Nacht. Irgendwo im Süden glomm Syracuse, aber das Taxi bog nach Norden ab, als wir den Highway 81 erreicht hatten. Zu meiner Linken erschienen die Lichter von North Syracuse, verblassten wieder und verschwanden in der Nacht. Ein Dutzend Meilen weiter verließ der Fahrer den Highway, und die Dunkelheit wurde vollkommen. In der Stille der ländlichen Nacht entspannte ich mich. Werwölfe sind für das Stadtleben nicht geschaffen. Es gibt keinen Platz zum Rennen, und das Menschengewühl bietet oft mehr Versuchungen als Anonymität. Manchmal glaube ich, ich habe mich nur deshalb dafür entschieden, mitten in Toronto zu leben, weil es gegen meine Natur geht – noch ein Instinkt, den ich besiegen kann.
Ich sah zum Fenster hinaus und verfolgte an der vertrauten Landschaft draußen, wie wir vorankamen. Und je näher wir kamen, desto stärker wurde das Flattern im Magen. Beklommenheit, sagte ich mir. Nicht etwa Vorfreude. Obwohl ich fast zehn Jahre in Stonehaven verbracht hatte, betrachtete ich es nicht als mein Zuhause. Der Begriff ›Zuhause‹ war mir ohnehin fremd; es war eher ein schattenhaftes, aus Träumen und Erzählungen genährtes Gebilde als eine echte, eigene Erfahrung. Natürlich hatte ich einmal ein Zuhause gehabt, ein Zuhause und eine richtige Familie, aber ich hatte sie nicht lang genug gehabt, um mehr als eine flüchtige Vorstellung davon zurückzubehalten.
Meine Eltern waren ums Leben gekommen, als ich fünf war. Wir waren auf dem Heimweg von einem Jahrmarkt und hatten einen Umweg genommen, weil meine Mutter mir ein Zwergponyfohlen zeigen wollte, das sie auf einer Farm in der Gegend gesehen hatte. Ich konnte das Lachen meines Vaters hören, als er sie fragte, wie sie auf den Gedanken kam, dass ich um Mitternacht auf einer Weide irgendetwas erkennen könnte. Ich weiß noch, wie er sich über die Lehne hinweg nach mir umsah und mich angrinste, während er meine Mutter neben mir auf der Rückbank neckte. Ich erinnere mich nicht, was als Nächstes passierte. Keine kreischenden Reifen, kein unkontrollierbar schleuderndes Auto. Einfach nur Schwärze.
Ich weiß nicht, wie ich an den Straßenrand geriet. Ich war angeschnallt gewesen, muss mich aber nach dem Unfall aus dem Gurt gewunden haben. Ich erinnere mich nur noch daran, wie ich neben dem blutigen Körper meines Vaters auf dem Kies gesessen habe, wie ich ihn schüttelte, mit ihm redete, ihn anflehte, mir zu antworten, und nicht verstand, warum er es nicht tat – ich wusste nur, dass mein Vater immer antwortete, mich niemals ignorierte, aber jetzt tat er nichts als mich anzustarren, mit weit geöffneten Augen, ohne zu blinzeln. Ich erinnere mich noch, wie ich mich selbst wimmern hörte, ein fünfjähriges Kind, das an der Straße kauerte, wie ich in die Augen meines Vaters starrte und wimmerte, weil es so dunkel war und weil niemand zu Hilfe kam, wimmerte, weil meine Mutter noch in dem zertrümmerten Auto saß und sich nicht bewegte und weil mein Vater vor mir im Schmutz lag, ohne zu antworten, ohne mich in den Arm zu nehmen, ohne mich zu trösten, ohne meiner Mutter aus dem Auto zu helfen, und dann war da Blut, so viel Blut, und überall waren Glasscherben, und es war so dunkel und so kalt, und niemand kam uns zu Hilfe.
Wenn ich noch irgendwelche entfernten Verwandten hatte, habe ich nie etwas von ihnen gehört. Nach dem Tod meiner Eltern war die einzige Person, die sich um mich bemühte, die beste Freundin meiner Mutter, und ihr wollte man mich nicht überlassen, weil sie unverheiratet war. Aber ich verbrachte nur ein paar Wochen im Kinderheim, bevor mich das erste Paar mitnahm, das mich zu Gesicht bekam. Ich kann die beiden noch vor mir sehen, wie sie da vor mir knieten mit ihren Ahs und Ohs, weil ich ein so schönes Kind war. So winzig und vollkommen mit meinem weißblonden Haar und den blauen Augen. Eine Porzellanpuppe nannten sie mich. Sie nahmen ihre Puppe mit nach Hause und begannen mit ihrem perfekten Familienleben. Nur dass es sich nicht ganz so entwickelte. Die kostbare Puppe saß den ganzen Tag auf ihrem Stuhl und machte den Mund nicht auf, und nachts – jede Nacht – schrie sie bis zum Morgengrauen. Nach drei Wochen brachten sie mich ins Heim zurück. Und so wanderte ich von einer Pflegefamilie zur anderen, und immer wurde ich von Leuten ausgesucht, die vollkommen bezaubert waren von
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