Die Nacht der Wölfin
eben eine Nachricht hinterlassen sollen.«
»Habe ich auch. Vor zwei Stunden.«
»Das erklärt es. Ich war den ganzen Tag am Tor und hab auf dich gewartet, und dass Jer nie den Anrufbeantworter abfragt, weißt du ja schließlich.«
Ich fragte nicht, woher Clay gewusst hatte, dass ich heute kommen würde, obwohl ich keine Nachricht hinterlassen hatte. Und ich fragte auch nicht, warum er den ganzen Tag am Tor verbracht hatte. Clays Verhalten war mit menschlichen Maßstäben von Normalität – oder mit welchen Maßstäben von Normalität auch immer – nicht zu verstehen.
»Wo steckt er also?«, fragte ich.
»Weiß ich nicht. Hab ihn nicht gesehen, seit er mir vor ein paar Stunden mein Abendessen rausgebracht hat. Muss ausgegangen sein.«
Ich brauchte nicht in der Garage nachzusehen, ob Jeremys Auto da war, um zu wissen, dass Clay kein Ausgehen im üblichen Sinne meinte. Gebräuchliche menschliche Ausdrücke bekamen in Stonehaven eine neue Bedeutung. Ausgegangen bedeutete, er war rennen gegangen – und das wiederum bedeutete nicht, dass er joggte.
Erwartete Jeremy etwa, dass ich eigens das Flugzeug hierher nahm und dann wartete, bis es ihm gerade passte? Natürlich erwartete er das. War es die Strafe dafür, dass ich seinen Ruf so lang ignoriert hatte? Ein Teil von mir wünschte sich, ihm das vorwerfen zu können, aber kleinlich war Jeremy nie. Wenn er geplant hatte, heute Nacht rennen zu gehen, dann wäre er rennen gegangen, ganz gleich ob ich kam oder nicht. Etwas wie Verletztheit mischte sich einen Augenblick lang in meinen Ärger, aber ich verdrängte es sofort. Erwartete ich etwa, dass Jeremy auf mich wartete wie Clay? Natürlich nicht. Weder erwartete ich es, noch legte ich Wert darauf. Wirklich nicht. Ich war verärgert, das war alles. Und schließlich konnte ich ihm in gleicher Münze heimzahlen. Jeremy legte Wert darauf, ungestört zu bleiben, wenn er rannte. Was würde ich also tun? Ihn dabei stören. Jeremy mochte niemals kleinlich sein, aber für mich galt das ganz entschieden nicht.
»Ausgegangen?«, sagte ich. »Na, dann muss ich ihn wohl suchen gehen.«
Ich machte einen Bogen um Clay und wandte mich zur Tür. Er trat mir in den Weg.
»Er wird bald zurück sein. Setz dich, und wir –«
Ich drückte mich auf dem Weg zur Hintertür an ihm vorbei. Clay folgte mir auf dem Fuß, blieb exakt einen Schritt hinter mir. Ich ging durch den ummauerten Garten zu dem Pfad, der in den Wald führte. Der Mulchbelag knirschte unter meinen Füßen. Von vorn begannen die Gerüche der Nacht einzusickern: brennendes Laub, Vieh in einiger Entfernung, nasse Erde – eine Million lockender Gerüche. Irgendwo kreischte eine Maus, als eine Eule sie vom Waldboden griff.
Ich ging weiter. Keine zwanzig Meter in den Wald hinein war aus dem Gartenweg ein schmaler grasbewachsener Trampelpfad geworden, der sich im Unterholz verlor. Ich hielt inne und schnupperte. Nichts. Kein Geruch, kein Geräusch, keine Spur von Jeremy. In diesem Augenblick wurde mir klar, dass ich überhaupt kein Geräusch mehr hörte, nicht einmal Clays Schritte hinter mir. Ich drehte mich um und sah nichts als Bäume.
»Clayton!«, schrie ich.
Einen Augenblick später erreichte mich die Antwort in Form eines Krachens in den Büschen irgendwo. Er hatte sich aufgemacht, um Jeremy zu warnen. Ich drosch mit der Hand auf den nächsten Stamm. Hatte ich mir wirklich eingebildet, Clay würde mich einfach so in Jeremys Privatsphäre einbrechen lassen? Wenn ja, dann musste ich im letzten Jahr wohl ein paar Dinge vergessen haben. Ich arbeitete mich durch die Bäume. Zweige schlugen mir ins Gesicht, und Ranken griffen nach meinen Füßen. Ich stolperte vorwärts, kam mir riesig, ungeschickt und höchst unwillkommen vor. Der Pfad war nicht für Menschen gemacht. Auf diese Weise hatte ich nicht die geringste Chance, Clay zuvorzukommen, und so suchte ich mir eine Lichtung und bereitete mich auf die Wandlung vor.
Die Verwandlung war übereilt, was sie ungeschickt und schmerzhaft vonstatten gehen ließ, und danach lag ich keuchend am Boden und musste mich ausruhen. Als ich aufstand, schloss ich die Augen und atmete den Geruch von Stonehaven ein. Ein Schauer des Hochgefühls begann in meinen Pfoten, raste die Beine aufwärts und lief zitternd durch meinen ganzen Körper. Mit ihm kam eine unbeschreibliche Mischung von Erregung und Ruhe; ich wollte durch den Wald jagen und zugleich in seligem Frieden zusammenbrechen. Ich war zu Hause. Als Mensch konnte ich leugnen,
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