Die Nacht der Wölfin
streckte den Kopf ins Innere.
»Steigst du jetzt aus, oder überlegst du's dir noch ein Weilchen?«
»Hier steigt sie nicht aus«, erklärte der Fahrer, während er über die Lehne zu mir nach hinten sah. »Wenn Sie dumm genug sind, nachts hier im Wald rumzurennen, ist das Ihr Problem, aber die junge Dame hier lasse ich nicht Gott weiß wie weit zu dem Haus da laufen. Wenn Sie mitkommen wollen, machen Sie mir das Tor auf und steigen Sie ein. Wenn nicht, machen Sie die Tür zu.«
Clay wandte sich dem Fahrer zu, als nehme er ihn zum ersten Mal zur Kenntnis. Seine Lippen verzogen sich, und er öffnete den Mund. Was immer er auch zu sagen vorhatte, es würde nicht freundlich ausfallen. Bevor Clay eine Szene anfangen konnte, öffnete ich die Tür auf der anderen Seite und stieg aus. Als der Fahrer das Fenster herunterkurbelte, um mich aufzuhalten, ließ ich ihm eine Fünfzigernote in den Schoß fallen und lief um das Auto herum. Clay schlug die zweite Tür zu und ging zur Auffahrt. Der Fahrer zögerte und schoss dann davon, wobei er einen Hagelschauer aus Kies aufwühlte – ein Abschiedskommentar an unsere Adresse, ein Ausdruck seiner Meinung über unsere jugendliche Gedankenlosigkeit.
Als ich näher kam, trat Clay ein paar Schritte zurück, um mich anzusehen. Trotz der kalten Nachtluft trug er nur verblichene Jeans und ein schwarzes T-Shirt, die schlanke Hüften, eine breite Brust und einen schwellenden Bizeps zur Geltung brachten. In den zehn Jahren, die ich ihn kannte, hatte er sich nicht verändert. Ich hoffte immer auf eine Veränderung – ein paar Fältchen, eine Narbe, irgendetwas, das seine fotomodellperfekte Attraktivität beeinträchtigen und ihn auf die Ebene aller übrigen Sterblichen herabziehen würde, aber ich wurde jedes Mal enttäuscht.
Als ich auf ihn zuging, legte er den Kopf zur Seite, ohne dass seine Augen meine losließen. Weiße Zähne blitzten auf, als er grinste.
»Willkommen zu Haus, Darling.« Der schleppende Südstaatenton machte aus dem Kosewort ein lang gezogenes ›dah-ling‹ wie in einem Country-and-Western-Song. Und ich habe Country-music noch nie ausstehen können.
»Bist du das Empfangskomitee? Oder hat Jeremy dich endlich am Tor angekettet, wo du hingehörst?«
»Ich hab dich auch vermisst.«
Er griff nach mir, aber ich wich aus, zurück auf die Straße, und machte mich auf den viertelmeilenlangen Weg zum Haus. Clay folgte mir. Ein Stoß kühler, trockener Nachtluft hob eine dünne Haarsträhne in meinem Nacken, und mit ihr kamen verstreute Gerüche – das scharfe Aroma von Zedern, der schwache Duft von Apfelblüten und der verlockende Geruch eines schon lang verzehrten Abendessens. Mit jedem neuen Duft schienen meine verspannten Muskeln sich zu lockern. Ich schüttelte mich, schüttelte das Gefühl ab und zwang mich dazu, den Blick auf die Straße gerichtet zu halten, konzentrierte mich darauf, nichts zu tun, nicht mit Clay zu sprechen, nichts zu riechen, nicht nach rechts oder links zu sehen. Ich wagte nicht, Clay zu fragen, was eigentlich los war. Das hätte bedeutet, mich auf ein Gespräch mit ihm einzulassen, was ausgesehen hätte, als wollte ich mit ihm reden. Bei Clay konnte selbst die geringste Ermutigung gefährlich werden. So sehr ich wissen wollte, was hier vor sich ging, ich musste es von Jeremy selbst erfahren.
Als ich das Haus erreicht hatte, blieb ich vor der Tür stehen und sah auf. Der zweistöckige Steinbau schien nicht drohend über mir aufzuragen, sondern sich zurückzulehnen – erwartungsvoll. Er hieß mich willkommen, aber noch gedämpft, wartete darauf, dass ich den ersten Schritt tat. So ganz wie sein Eigentümer. Ich berührte einen der kühlen Steine und spürte, wie ein Schwall von Erinnerungen hervorsprang, um mich zu begrüßen. Ich riss mich los und öffnete die Tür, warf meine kleine Reisetasche auf den Boden und ging geradewegs zum Arbeitszimmer, wo ich erwartete, Jeremy lesend am Kamin zu finden. Er war immer dort, wenn ich nach Hause kam – er wartete nicht am Tor wie Clay, aber er wartete nichtsdestoweniger.
Das Zimmer war leer. Ein gefalteter Corriere della Sera lag neben Jeremys Stuhl. Stöße von Clays anthropologischen Fachzeitschriften und wissenschaftlichen Publikationen bedeckten Sofa und Schreibtisch. Auf dem Schreibtisch befand sich auch das Telefon; es schien intakt und angeschlossen zu sein.
»Ich habe angerufen«, sagte ich. »Warum war keiner da?«
»Wir waren da«, sagte Clay. »In der Nähe jedenfalls. Du hättest uns
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