Die Nacht der Wölfin
seine ganze Kraft. Ich wünschte, ich hätte es nicht so deutlich gesehen. Ich wünschte, ich könnte glauben, wie Antonio und Nick es taten – daran glauben, dass der Rudelalpha unzerstörbar war. So wachsen Rudelmitglieder auf, in der festen Überzeugung, dass ihr Alpha sie schützen wird, ganz gleich, was geschieht. Und das war falsch. Ganz einfach falsch. Es funktionierte phantastisch unter normalen Umständen, wenn das Rudel nie von mehr als einem Mutt auf einmal behelligt wurde und die Aufgabe des Alpha eher darin bestand, Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Rudels beizulegen und den Mutts gegenüber eine geschlossene Front zu präsentieren. Aber im Angesicht eines solchen Problems brauchte der Alpha Hilfe, nicht nur dabei, die Bedrohung abzuwenden, sondern auch bei der Entscheidung darüber, wie sie abgewendet werden sollte. Und eine solche Zusammenarbeit war unvorstellbar. Jeremy mochte seine Überlegungen an Antonio ausprobieren, aber er würde nie auf den Gedanken kommen, ihn um Rat zu fragen, und kein Mitglied des Rudels würde im Traum daran denken, ihm welchen anzubieten. Ich dagegen tat es. Ich wollte Jeremy sagen, was ich dachte, und zu helfen versuchen, aber ich wusste, dass das nicht möglich war. Wenn er sich im Augenblick ohnehin überfordert fühlte, würde es die Dinge nur schlimmer machen, wenn ich jetzt anfing, seine Pläne zu hinterfragen. Wie Antonio und Nick stand auch Jeremy im Bann jenes missverstandenen Idealbilds vom Anführer. Die Verantwortung dafür, das Rudel zu retten, lag allein auf seinen Schultern. Ich konnte nur auf eine einzige Art helfen – indem ich eigene Strategien entwickelte.
Erwachen
Am nächsten Morgen zogen Jeremy und Antonio wieder los. Auch ich machte mich wieder an die Arbeit. Oder zumindest bereitete ich mich darauf vor, wieder an die Arbeit zu gehen. Ich rief im Krankenhaus an, um mich nach Philip zu erkundigen, und danach setzte ich mich an den Schreibtisch im Arbeitszimmer, schaltete Clays Laptop ein und blieb davor sitzen, während mein Blick vom Telefon zum Bildschirm und wieder zurück wanderte. Andere Mittel, um Clay zu finden, hatte ich nicht, und ich hatte keine Vorstellung, was ich mit den beiden anstellen sollte, die ich hatte. Schließlich nahm ich einen Block und notierte, was ich schon wusste, in der Hoffnung, dass sich auf diese Weise neue Ideen ergeben würden.
Es waren noch zwei erfahrene Mutts übrig, halb so viele, wie es ursprünglich gewesen waren. Das klang gut, bis ich mir ins Gedächtnis rief, dass wir die weniger bedrohlichen Mutts eliminiert und die gefährlicheren am Leben gelassen hatten. Schon nicht mehr so gut. Daneben hatten wir noch zwei neue Mutts. LeBlanc kannte ich, und ich hatte eine Vorstellung von seinen Motiven und seiner Vorgehensweise. Auch hier gönnte ich mir einen Augenblick der Selbstzufriedenheit, bevor mir wieder einfiel, dass ich Cains Protegé Victor Olson noch nicht einmal zu Gesicht bekommen hatte. Damit war immerhin der nächste Schritt klar: mehr über Olson herauszufinden. Dass ich nun wusste, was ich tun würde, sagte mir natürlich nicht automatisch, wie ich es tun sollte. Von meinen beiden Arbeitswerkzeugen erschien mir das Internet aussichtsreicher, im Wesentlichen deshalb, weil ich keine Vorstellung hatte, was ich mit dem Telefon anfangen sollte.
Cain hatte gesagt, dass sein Protegé Victor Olson hieß und dass er ihn in Arizona, wo er wegen eines Sexualverbrechens verurteilt worden war, aus dem Gefängnis geholt hatte. Dass Daniel überhaupt auf Olson aufmerksam geworden war, ließ darauf schließen, dass seine Verbrechen ein gewisses Medieninteresse erregt hatten. Eine einfache Suche nach dem Namen und der Stadt ergab sieben Treffer. Bei vieren davon ging es um einen gewissen Vic ›Mad Dog‹ Olson, was sich verheißungsvoll anhörte, bis ich die erste Site anklickte und auf Werbung für einen Rechtsanwalt stieß. Dann war da noch ein längst verstorbener Stadtvater namens Victor Olson. Erst bei den letzten beiden Treffern fand ich den Richtigen. Victor Olson war vor vier Monaten aus dem Gefängnis ausgebrochen, in dem er eine lebenslange Haftstrafe für die Vergewaltigung und Ermordung eines zehnjährigen Mädchens hätte verbüßen sollen. Ich musste das Alter des Opfers mehrmals nachlesen. Cain hatte gesagt, Olson sei im Gefängnis gewesen, weil er mit ›ein paar Mädchen rumgemacht‹ hatte. Ich war davon ausgegangen, dass mit den ›Mädchen‹ Erwachsene gemeint gewesen waren. Ganz
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