Die Nacht der Wölfin
offensichtlich nicht. Ich schluckte meinen Ekel hinunter und las den Artikel durch. Olson war sein ganzes Leben lang pädophil gewesen und hatte schon mehrmals wegen sexueller Belästigung und Nötigung vor Gericht gestanden, war aber jedes Mal freigesprochen worden, weil der Richter die Zeugenaussagen seiner Opfer als nicht verlässlich eingestuft hatte. Beim letzten Opfer hatte der Richter zugeben müssen, dass die von der Leiche des Mädchens gemachte Aussage hinreichend verlässlich war. Ich las als Nächstes den Artikel auf der letzten verbliebenen Site und fand heraus, weshalb Daniel sich für Olson entschieden hatte. Olson war ein Stalker. Er wählte seine Opfer mit großer Sorgfalt aus und beobachtete sie wochenlang, bevor er schließlich aktiv wurde. Einer der Ermittler hatte ausgesagt, er habe noch nie mit jemandem zu tun gehabt, der bei der ›Jagd‹ so geschickt vorging – seine Wortwahl, nicht meine.
Ich verbrachte eine weitere Stunde damit, die mir bekannten Fakten noch einmal durchzugehen. Als das zu nichts führte, spürte ich Nick im Trainingsraum auf und wiederholte ihm gegenüber alles, was ich wusste. Ich hoffte, dass entweder ihm etwas dazu einfallen würde oder dass ich selbst dadurch, dass ich es aussprach, einen Geistesblitz haben würde. Nick hörte zu, hatte aber keine zündende Idee. Nun war Nick auch nicht daran gewöhnt, Ideen zu haben. Das hat jetzt übler geklungen, als es gemeint war. Was ich damit meine, ist einfach, dass er daran gewöhnt war, die Pläne anderer auszuführen. Er war ein enthusiastischer Gefolgsmann und ein loyaler Freund, aber er war nicht gerade – wie soll man es nett ausdrücken – nicht gerade ein Denker. Und mit ihm zu reden verhalf auch mir nicht zu neuen Einsichten. Also räumte ich meine Papiere fort, schaltete den Laptop aus und verlagerte meine Aufmerksamkeit auf die geistloseste, trübseligste Tätigkeit, die ich mir vorstellen konnte. Ich machte die Wäsche.
Niemand hatte sich um die Wäsche gekümmert, seit Clay und ich nach Toronto gegangen waren, wahrscheinlich weil es so ziemlich das Letzte war, woran irgendjemand einen Gedanken verschwendet hatte. Die ganze Bedeutung dieser Tatsache ging mir erst auf, als ich die erste Ladung zusammenfaltete und dabei auf eins von Clays Hemden stieß. Da stand ich nun mit dem Hemd, das Clay am Tag vor unserer Abreise getragen hatte. Keine Ahnung, warum ich mich daran noch erinnerte. Es war ein dunkelgrünes Golfhemd, eine der wenigen farbigen Ausnahmen unter Clays Unmengen von schwarzen und weißen T-Shirts. Es musste ursprünglich ein Geschenk von Logan gewesen sein, der es als seine undankbare Aufgabe betrachtet hatte, Clays Garderobe ein modisches Element hinzuzufügen. Ich starrte das Hemd an und dachte an Logan, und der Kummer wallte wieder auf. Dann dachte ich an Peter, erinnerte mich daran, wie er Clay mit seiner monochromen Kluft aufgezogen und ihm damit gedroht hatte, er werde ihm einen Stoß der grellsten Tournee-T-Shirts mitbringen, die er auftreiben konnte. Ich blinzelte heftig, schob das Hemd unter einen Stoß von Nicks Hosen und machte weiter.
Nachdem die erste Ladung Wäsche fertig war, trug ich die Sachen hinauf. Clays Stoß sparte ich mir bis zuletzt auf. Danach stand ich minutenlang vor seiner geschlossenen Schlafzimmertür und versuchte genug Mut aufzubringen, um hineinzugehen. Ich beeilte mich nach Kräften, Hemden, Socken und Wäsche in die Schubladen zu stopfen. Die Jeans kamen in den Schrank. Ja, Clay hängte Jeans auf – wahrscheinlich weil der Schrank leer gewesen wäre, wenn er es nicht getan hätte. Ich war dabei, sie auf die Bügel zu verteilen, als ich den Stoß eingewickelter Geschenke auf dem Schrankboden entdeckte. Ich brauchte mir die Anhänger nicht anzusehen, um Bescheid zu wissen. Ein Teil von mir wollte die Tür zuschlagen und flüchten. Ich wollte sie nicht sehen. Aber ich konnte nicht widerstehen. Ich bückte mich und nahm das oberste Geschenk in die Hand. Es war in Weihnachtspapier eingewickelt – bunte Schleifen und Zuckerstangen. Auf dem Anhänger war ein Name quer über das Von und Für gekrakelt: Elena.
Nick hatte gesagt, dass Clay mich zurückerwartet hatte. Halb hatte ich selbst erwartet, letztes Weihnachten zurückzukommen, nicht durch eigenes Zutun, sondern auf magische Weise, so, als könnte ich am Heiligabend in Toronto einschlafen und am nächsten Morgen in Stonehaven aufwachen. Ostern, Thanksgiving, Geburtstage, all diese Daten waren unbemerkt
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