Die Nacht der Wölfin
einer seiner Reisen zurückgekommen. Er war in Louisiana unterwegs gewesen, als er einen Werwolf gerochen hatte. Er war dem Geruch nachgegangen und hatte einen sehr jungen Werwolf entdeckt, der wie ein Tier in den Sümpfen lebte. Für Malcolm Danvers war dies nichts weiter gewesen als eine interessante Geschichte fürs Abendessen, denn niemand hatte jemals von einem Werwolf im Kindesalter gehört. Geborene Werwölfe erleben ihre erste Wandlung erst im Erwachsenenalter, in der Regel zwischen dem achtzehnten und dem einundzwanzigsten Lebensjahr. Ein von einem Werwolf gebissener Mensch wird sofort zum Werwolf, unabhängig vom Alter. Man ging generell davon aus, dass ein gebissenes Kind sterben würde – wenn nicht an dem Biss selbst, dann mit Sicherheit an dem Schock. Selbst wenn das Kind den Biss wie durch ein Wunder überleben sollte, würde es die erste Wandlung nicht durchstehen können. Der Junge in Louisiana wirkte nicht älter als sieben oder acht, aber Malcolm hatte ihn in beiden Gestalten gesehen, er war also unverkennbar ein echter Werwolf. Das Rudel schob sein Überleben auf schieres Glück, eine Laune der Natur, die mit Kraft oder Willensstärke nichts zu tun hatte. Das Wolfskind mochte bisher überlebt haben, würde es aber mit Sicherheit nicht mehr lang machen. Malcolm rechnete damit, den Jungen bei seinem nächsten Besuch in Louisiana tot zu finden. Er schloss mit seinen Brüdern aus dem Rudel sogar ein paar hohe Wetten darauf ab.
Am nächsten Tag nahm Jeremy ein Flugzeug nach Baton Rouge und spürte den Jungen auf, der keine Ahnung hatte, was mit ihm geschehen war oder wie lang er schon ein Werwolf war. Er hatte in den Sümpfen und am Rand der Wohngebiete gelebt und sich am Leben erhalten, indem er Ratten und Hunde und Kinder tötete. In seinem Alter waren die Wandlungen vollkommen unkontrollierbar; er schwankte ständig zwischen den beiden Gestalten und war darüber fast wahnsinnig geworden. Der Junge hatte selbst in menschlicher Gestalt ausgesehen wie ein Tier, nackt, mit verfilztem Haar und Nägeln wie Klauen.
Jeremy hatte den Jungen mit nach Hause genommen und versucht, ihn zu zivilisieren. Es stellte sich heraus, dass dies eine so unmögliche Aufgabe war wie die, ein wildes Tier zu zivilisieren. Im allerbesten Fall kann man hoffen, es zu zähmen. Clay hatte so lange allein als Werwolf gelebt, dass er sich nicht mehr daran erinnern konnte, jemals etwas anderes gewesen zu sein. Er war ein Wolf geworden, einem echten Wolf ähnlicher als jeder normale Werwolf, getrieben von den einfachsten Instinkten – dem Bedürfnis zu jagen und zu fressen, sein Territorium zu verteidigen und seine Familie zu schützen. Wenn Jeremy dies jemals bezweifelt hatte, dann hatte Clays erste Begegnung mit Nicholas jeden Zweifel beseitigt.
Als Junge wollte Clay mit menschlichen Kindern nichts zu tun haben, und so beschloss Jeremy, er sollte einen der Söhne des Rudels kennen lernen – vielleicht würde Clay einen Spielgefährten bereitwilliger akzeptieren, der zwar noch kein Werwolf war, aber immerhin ihr Blut in den Adern hatte. Ich habe es schon erwähnt: die Söhne des Rudels wurden ihren Müttern früh weggenommen und von ihren Vätern aufgezogen. Mehr als das, sie wurden vom Rudel selbst aufgezogen. Die Jungen wurden von all seinen Mitgliedern betreut und verwöhnt, vielleicht um sie für das schwierige Leben zu entschädigen, das ihnen bevorstand, vor allem aber wohl, um die Bande zu schaffen, die für ein starkes Rudel nötig sind. Die Kinder verbrachten die Sommermonate oft damit, von Haus zu Haus zu wechseln und so viel Zeit wie möglich mit den ›Onkeln‹ und ›Cousins‹ zu verleben, die später ihre Brüder im Rudel sein würden. Das Rudel war nie sehr groß gewesen, und es gab in der Regel nicht mehr als zwei Jungen im gleichen Alter. Als Clay zu Jeremy kam, gab es nur zwei Rudelsöhne unter zehn Jahren: Nick, damals acht, und Daniel Santos, der beinahe sieben gewesen war – das Alter, das Jeremy schließlich auch Clay offiziell zuschrieb. Von den beiden sollte Nick Clays erster Spielgefährte werden. Vielleicht suchte Jeremy Nick aus, weil er der Sohn seines besten Freundes war. Vielleicht sah er auch schon damals etwas in Daniel, das ihn zu der Entscheidung bewog, er würde keinen passenden Spielgefährten abgeben. Was immer seine Gründe auch gewesen waren, Jeremys Entscheidung sollte sich auf das ganze Leben der drei Jungen auswirken. Aber das ist eine andere Geschichte.
Bei ihrer ersten Begegnung
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