Die Nacht der Wölfin
Jeremy trank Kaffee und ignorierte uns.
Antonio kam zurück in den Wintergarten, den Teller so beladen, dass ich jeden Augenblick damit rechnete, die Pfannkuchen würden auf den Teppich rutschen – zumal er ihn nur in einer Hand hielt. Mit der Gabel in der anderen schob er sich gerade einen Pfannkuchen in den Mund. Nick folgte seinem Vater und stellte Clay einen Teller hin; dann zog er sich den fünften Stuhl heran, drehte ihn um und setzte sich mit gespreizten Beinen quer darüber. Ein paar Minuten vergingen in himmlischem Schweigen. Werwölfe machen beim Essen nicht viel Konversation. Die Aufgabe, sich den Magen voll zu schlagen, fordert ihre ganze Konzentration.
Das Schweigen hätte vielleicht noch länger angehalten, wenn die Türklingel die Stille nicht zerrissen hätte. Nick ging aufmachen und kam mit Peter Myers zurück. Peter war klein und drahtig mit einem breiten Grinsen und wildem rotem Haar, das immer aussah, als hätte er das Kämmen vergessen. Wir gingen das ganze Ritual der Umarmungen, des Schulterklopfens und spielerischen Boxens noch einmal durch. Begrüßungen innerhalb des Rudels waren überschwänglich, gingen mit viel Körperkontakt einher und hinterließen oft genug ebenso viele blaue Flecken wie ein paar Runden einer Schlägerei.
»Und wann kommt Logan?«, fragte ich, als alle sich wieder an die Schwerarbeit des Essens machten.
»Gar nicht«, antwortete Jeremy. »Musste nach Los Angeles wegen einem Gerichtstermin. Sie haben ihn im allerletzten Moment gegen einen anderen Anwalt eingewechselt. Ich hab ihn gestern Abend noch angerufen und ihm erzählt, was los ist.«
»Dabei fällt mir ein«, sagte Clay, während er sich zu mir wandte. »Als ich das letzte Mal mit Logan gesprochen habe, hat er irgendwas davon rausgelassen, dass er mit dir geredet hätte. Kann natürlich nicht sein, du hattest ja jeden Kontakt zum Rudel abgebrochen, oder?«
Ich sah Clay an, ohne zu antworten. Ich brauchte nicht zu antworten. Er sah die Antwort in meinen Augen. Er wurde rot vor Ärger und spießte ein Stück Schinken mit so viel Nachdruck auf, dass der Tisch zitterte. Ich hatte mindestens einmal in der Woche mit Logan gesprochen, seit ich fortgegangen war, und mir dabei eingeredet, dass ich meinen Eid nicht wirklich brach, solange ich mich nicht mit ihm traf. Außerdem war Logan mehr als mein Bruder aus dem Rudel. Er war mein Freund, vielleicht der einzige echte Freund, den ich jemals gehabt hatte. Wir waren im gleichen Alter, aber auch darüber hinaus hatten wir mehr gemeinsam, als die beiden Mitglieder von WHAM! nennen zu können. Logan verstand den Reiz der Außenwelt. Er genoss den Schutz und die Kameradschaft, die das Rudel ihm bot, war aber ebenso zu Hause in der Menschenwelt, in der er eine Wohnung in Albany, eine langjährige Freundin und eine florierende Kanzlei hatte. Als mir klar geworden war, dass Jeremy ein Treffen einberufen hatte, war mein erster Gedanke gewesen: Phantastisch, Logan wird da sein. Und jetzt würde mir nicht einmal diese Entschädigung für den ungeplanten Besuch bleiben.
Ein paar Minuten später gingen Jeremy und Antonio hinaus auf die hintere Veranda, um miteinander zu reden. Als Jeremys ältester und engster Freund diente Antonio oft als Zuhörer und Kommentator für Jeremys Ideen und Pläne – eine Art Großwesir. Antonio und Jeremy waren als Söhne der beiden angesehensten Familien des Rudels zusammen aufgewachsen. Antonios Vater war vor Jeremy der Rudel-Alpha gewesen. Als Dominic starb, waren viele seiner Gefolgsleute davon ausgegangen, dass Antonio seine Aufgabe übernehmen würde, obwohl die Führerschaft innerhalb des Rudels nicht erblich war. Wie bei echten Wölfen war der Alpha traditionell der beste Kämpfer. Bevor Clay erwachsen geworden war, war Antonio der beste Kämpfer gewesen. Darüber hinaus hatte er mehr Hirn und mehr Vernunft als ein Dutzend normaler Werwölfe. Aber nach dem Tod seines Vaters hatte Antonio sich für Jeremy ausgesprochen, in dem er die Stärken erkannte, die das Rudel retten konnten. Mit Antonios Hilfe hatte Jeremy alle Einwände gegen seine Führerschaft aus dem Weg geräumt. Seither hatte niemand ihm die Rolle mehr streitig gemacht. Der einzige Werwolf, der Jeremys Position hätte gefährlich werden können, war Clay, und Clay hätte sich eher den rechten Arm abgehackt, als sich gegen den Mann zu stellen, der ihn gerettet und aufgezogen hatte.
Als Jeremy einundzwanzig gewesen war, war sein Vater mit einer merkwürdigen Geschichte von
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