Die Nacht der Wölfin
brachte Antonio Nick nach Stonehaven und stellte ihn Clay vor in der Erwartung, die beiden Jungen würden zusammen verschwinden und irgendwo brav und altmodisch Räuber und Gendarm spielen. Antonios Erzählungen zufolge stand Clay einen Moment lang da und musterte den älteren, größeren Jungen. Dann machte er einen Satz und drückte Nick mit einem Arm über seiner Kehle auf den Boden, woraufhin Nick prompt in die Hose machte. Angewidert von dem wenig lohnenden Gegner beschloss Clay, ihn am Leben zu lassen, und stellte rasch fest, dass er Verwendung für Nick hatte … als Trainingsobjekt, Handlanger und ergebenen Gefolgsmann. Was nicht heißen soll, dass die beiden Jungen nie ganz altmodisch Räuber und Gendarm spielten, aber wann immer sie es taten und welche Rolle Nick in dem Spiel auch innehatte, es war jedes Mal er, der am Ende geknebelt, an einen Baum gefesselt und dort gelegentlich auch zurückgelassen wurde.
Clay lernte im Lauf der Zeit, seine Instinkte besser zu kontrollieren, aber selbst jetzt noch war es ein ständiger Kampf gegen die eigene Natur. Clay wurde vom Instinkt beherrscht. Er hatte Kniffe gelernt, die er anwenden konnte, wenn er rechtzeitig gewarnt wurde, etwa wenn er in der Ferne Jäger auf dem Grundstück hörte. Aber ohne eine solche Vorwarnung übernahm sein Temperament die Kontrolle, und er konnte explodieren und manchmal auch das Rudel gefährden. Ganz gleich wie intelligent er war – man hatte festgestellt, dass er einen IQ von 160 hatte –, er konnte seine Instinkte nicht beherrschen. Manchmal dachte ich, dass es dies für ihn noch schwieriger machen musste – klug genug zu sein, um zu wissen, dass man Fehler machte, und es trotzdem nicht verhindern zu können. Bei anderen Gelegenheiten fand ich eher, dass er, wenn er so klug war, auch in der Lage sein sollte, sich zu kontrollieren. Vielleicht versuchte er es einfach nicht wirklich. Diese Erklärung war mir lieber.
Als Jeremy und Antonio von ihrer privaten Besprechung zurückkamen, zogen wir alle ins Arbeitszimmer um, wo Jeremy uns die Situation schilderte. Es gab einen Werwolf in Bear Valley. Die Geschichte von den wilden Hunden war eine plausible Erklärung der Anwohner, die verzweifelt eine brauchten. Rings um die Leiche waren Abdrücke von Hundepfoten gefunden worden. Auch die Tötungsart wies auf einen Hund hin – die Kehle war herausgerissen und die Leiche teilweise gefressen worden. Natürlich konnte niemand erklären, warum die junge Frau überhaupt nachts durch den Wald gegangen war, noch dazu im Rock und mit hohen Absätzen. Es sah aus, als hätte ein Hund sie getötet, also hatten die Anwohner beschlossen, dass es so war. Wir wussten es besser.
Der Killer war ein Werwolf. Alle Anzeichen sprachen dafür. Überraschend war nur, dass er noch in Bear Valley war, ja dass er überhaupt hierher gekommen war. Wie hatte es geschehen können, dass einer der Mutts so nah an Stonehaven herankam? Wie hatte er ein Mädchen aus der Stadt töten können, bevor Jeremy und Clay auch nur gemerkt hatten, dass er da war? Die Antwort war einfach: Selbstgefälligkeit. Nach zwanzig Jahren, in denen kein Werwolf einen Fuß in das Gebiet nördlich von New York City gesetzt hatte, hatte Clays Wachsamkeit nachgelassen. Jeremy hatte zwar nach wie vor die Zeitungen durchgesehen, hatte aber den Ereignissen andernorts im Territorium mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Wenn er mit Schwierigkeiten rechnete, dann erwartete er sie anderswo, vielleicht in Toronto, vielleicht in Albany, wo Logan seine Wohnung hatte, oder in den Catskills, wo der Landsitz der Sorrentinos lag, oder jenseits der Grenze in Vermont, wo Peter lebte. Aber nicht in der Nähe von Stonehaven. Niemals in der Nähe von Stonehaven.
Als die tote Frau verschwunden war, hatte Jeremy davon gewusst, aber keinen weiteren Gedanken daran verschwendet. Menschen verschwanden dauernd. Es hatte keinerlei Hinweis darauf gegeben, dass ein Werwolf mit der Sache zu tun hatte. Vor drei Tagen war die Leiche der Frau gefunden worden, und zu diesem Zeitpunkt war es zu spät gewesen. Die kurze Zeitspanne, in der man den Eindringling rasch und unauffällig hätte unschädlich machen können, war vorbei. Die Stadtbewohner waren alarmiert. Innerhalb weniger Stunden durchkämmten Jäger die Wälder auf der Suche nach der Bestie, mochte sie nun Mensch oder Hund sein. So sehr man Jeremy auch achtete, er war immer noch ein Außenseiter – jemand, der in der Umgebung lebte, sich aber von den anderen fern hielt. Seit
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