Die Nacht der Wölfin
haben?«
»Wir können –«
»Ich nicht.«
Das ließ ihn innehalten. Einen Augenblick lang war er still.
»Wenn du bleibst«, fuhr ich fort, »bleibe ich auch. Aber ich bin nicht in der Verfassung für einen Kampf. Ich bin müde und hungrig, und mein Arm taugt zu nichts mehr nach dem Hundebiss und Brandon.«
Ich schlug unter die Gürtellinie; im Augenblick war es mir aber egal. Ich würde sagen, was ich sagen musste, um uns rechtzeitig aus dem Zimmer zu bringen. Clays Gesichtsausdruck wechselte – erst unsicher, dann entschlossen.
»Okay«, sagte er. »Wir hauen ab. Haben wir noch Zeit –«
»Der Balkon. Wir müssen uns vorsichtig fallen lassen. Wir können nicht springen.«
»Dein Arm?« Er sah auf die verschorfte Wunde hinunter. Wir heilen schnell, und ich fühlte mich völlig okay, aber das würde ich ihm nicht sagen. Nicht gerade jetzt.
»Ich werd's überleben«, sagte ich.
Clay ging zum Balkon, schob die Vorhänge zur Seite und öffnete die Schiebetür. »Ich gehe als Erster und fang dich auf, wenn dein Arm nicht mitmacht.«
Er war über das Geländer geklettert, bevor ich noch an der Tür war. Ich schwang ein Bein nach außen, sah noch einmal zurück ins Zimmer und bemerkte das Fotoalbum auf dem Bett. Ich hätte es mitnehmen sollen. Es musste noch mehr Material enthalten, mehr, das mir helfen würde, Thomas LeBlanc kennen zu lernen. Regel Nummer eins bei der Jagd: Du solltest deine Beute kennen. »Komme gleich zurück«, rief ich über das Geländer zu Clay hinunter.
»Nein!«
Ich war schon wieder im Zimmer. Ich schnappte das Buch vom Bett, gerade als ein Kartenschlüssel ins Schloss geschoben wurde. »Funktioniert nicht«, sagte eine unbekannte Stimme durch die Tür. »Da musste ein grünes Licht angehen.«
Ich stürzte vom Bett zum Balkon, stolperte über ein Stück herumliegender Unterwäsche und flog beinahe kopfüber durch die Tür. Als ich mich über das Geländer schwang, versuchte jemand es mit dem Knauf, stellte fest, dass die Tür nicht abgeschlossen war, und stieß sie auf. Ich ließ mich auf den Boden fallen. Clay war nicht da, um mich aufzufangen. Als ich mich umdrehte, sah ich ihn zum Foyereingang stürzen. Ich wollte schon hinter ihm herschreien, besann mich dann eines Besseren, rannte ihm stattdessen nach und packte ihn von hinten. Wir landeten unmittelbar vor der ersten Zimmertür in einem Knäuel auf dem Asphalt. Das Fotoalbum flog mir aus der Hand und schlug ihm unters Kinn.
»Oops«, sagte ich. »Tut mir Leid.«
»Klingt beinahe, als meintest du's ernst«, knurrte er, während er das Buch mit einer Hand hochhielt. »Deswegen bist du zurückgegangen? Deswegen?«
»Ich brauche das.«
Er murmelte etwas vor sich hin. Ich verstand nicht, was er sagte, und wahrscheinlich hätte ich es auch gar nicht wissen wollen. Wir lagen immer noch auf dem Asphalt, ich auf ihm. Ich hob den Kopf, um zu horchen. Jemand trat auf den Balkon von LeBlancs Zimmer hinaus. Ich hörte das Geländer knarren, als er sich vorbeugte und über den Parkplatz spähte. Wir waren unter dem Balkon verborgen.
»Psst«, flüsterte ich.
»Ich weiß«, formte Clay mit den Lippen.
Er bewegte sich unter mir, seine Hände lagen jetzt auf meinem Hinterteil. Es war unter den gegebenen Umständen gar keine unbequeme Position – nicht, dass ich gerade hier hätte sein wollen, wenn ich eine Wahl gehabt hätte, natürlich, aber… Ach, egal.
»Du hast mir einen Schreck eingejagt«, flüsterte er.
Er legte eine Hand auf meinen Hinterkopf, zog mich nach unten und begann mich zu küssen. Ich schloss die Augen und erwiderte den Kuss. Ich meine, wenn wir schon vor einem Hotel auf dem Gehweg liegen mussten, dann sollten wir vielleicht wenigstens etwas tun, das notfalls erklären konnte, weshalb wir dort auf dem Gehweg lagen, oder? Nach ein paar Sekunden flackerten Clays Augen zur Seite und wurden schmal. Als ich mich von ihm löste, glitt er unter mir hervor und richtete einen wütenden Blick auf etwas hinter mir. Die Frau, die uns vorhin beim Streiten zugehört hatte, stand wieder in ihrer Zimmertür; diesmal trank sie aus einer Dose Cola Light, während sie sich die Show ansah.
»Brauchen Sie nicht auch noch eine Tüte Popcorn?«, fragte Clay, während er aufstand und sich den Staub von den Kleidern klopfte.
»Wir leben in einem freien Land«, sagte die Frau.
Nun hatte Clay mit Menschen ganz allgemein schon wenig Geduld; noch weniger Geduld hatte er mit Menschen, die in seine Privatsphäre eindrangen und denen nicht
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