Die Nacht der Wölfin
wieder jemand vermisst.«
»Der Junge?«
Jeremy schüttelte den Kopf und hielt mir die Hintertür auf. »Diesmal suchen sie nach einem der Männer, die am Freitag schon auf dem Grundstück waren. Dem älteren, dem Anführer.«
»Der wird vermisst?«
»Nicht nur das – er wird vermisst, nachdem er einem Freund gestern Abend eine Nachricht hinterlassen hat, er würde noch mal hierher kommen und sich ein bisschen umsehen. Irgendwas hier käme ihm merkwürdig vor. Er wollte rausfinden, was.«
»Oh, Scheiße.«
»Was für eine treffende Zusammenfassung.«
Misstrauen
Der Suchtrupp bestand aus sechs Leuten, drei Polizisten und drei Zivilisten. Jeremy, Peter, Nick und ich gingen mit, um ihnen bei der Suche zu helfen, während Antonio zum Haus zurückkehrte, um ein Auge auf Clay zu haben – nur für den Fall, dass Clay in seinem Bekenntnis zum Nichteinmischungsprinzip wankend wurde. Wir vier spielten die Rolle braver und besorgter Bürger und durchstöberten Büsche, während wir zugleich Ausschau hielten nach allem, von dem wir nicht wollten, dass unsere Besucher es fanden. Etwas in dieser Art tauchte schon ziemlich früh auf.
»Hab was!«, schrie einer der Männer.
»Ist es Mike?«, rief ein anderer und stürzte los.
Während alle Welt am Ort des Geschehens zusammenlief, hörten wir Nicks Stimme, halb erstickt von mühsam unterdrücktem Gelächter. »Vergesst's einfach. Es ist – uh – nicht weiter wichtig.«
»Was zum Teufel soll denn das heißen?«, fragte der erste Mann. »Du hältst das vielleicht für einen tollen Spaß, Junge, aber –«
Der Rest des Satzes verklang, als wir auf die Lichtung kamen und einen der Männer dabei antrafen, wie er sich über ein zerrissenes Hemd beugte. Kleidungsfetzen lagen auf dem Boden herum; weitere Fetzen hingen in den Büschen. Nick hielt die Hälfte eines weißen Slips hoch und grinste mich an. »Wilde Hunde? Oder einfach nur Clayton?«
»O Gott«, murmelte ich.
Ich ging zu ihm hin, um ihm die Unterwäsche aus der Hand zu reißen, aber er reckte den Arm über den Kopf und feixte wie ein Schuljunge.
»Ich seh Paris und Wein und Rosen, ich seh Elenas Unterhosen«, sang er.
»Wir haben alle schon sehr viel mehr gesehen als das«, bemerkte Jeremy. »Ich glaube, wir können uns ruhig wieder auf die Suche machen.«
Peter nahm Clays Hemd von einem niedrigen Zweig und hob es hoch, um mich durch ein Loch in der Mitte hindurch anzusehen. »Ihr zwei könnt ganz schön destruktiv sein. Wo ist die versteckte Kamera, wenn man sie mal braucht?«
»Dann waren das hier also keine – uh – keine wilden Hunde?«, fragte einer aus dem Suchtrupp.
Peter grinste und ließ das Hemd auf den Boden fallen. »Ach was. Bloß wilde Hormone.«
Die anderen Männer, die zwischendurch aufgehört hatten, mir nach dem Nackt-im-Garten-Vorfall Seitenblicke zuzuwerfen, musterten mich nun mit erneutem Interesse. Ich lächelte und gab mir dabei große Mühe, nicht die Zähne zu zeigen; dann kehrte ich rasch in den Wald zurück.
Jeremy, zwei Männer aus dem Trupp und ich durchkämmten die Büsche im nordöstlichen Teil des Grundstücks, als wir den nächsten Ruf hörten; diesmal klang es aufgeregt genug, dass wir zu rennen begannen. Als wir hinkamen, standen Nick und zwei andere Männer um eine Leiche herum. Nick sah hoch, fing meinen Blick auf und gab mir wortlos zu verstehen, dass er ohne Erfolg versucht hatte, die Männer fern zu halten. Jeremy und ich brachten die letzten Meter hinter uns und sahen auf den Körper hinunter. Es war der vermisste Mann. Sein Hemdkragen war zerrissen und blutgetränkt. Über dem Kragen war die Kehle zerfetzt; Fleischfetzen hingen von der Wunde. Leere Augenhöhlen starrten zu uns hinauf. Krähen oder Truthahngeier mussten ihn entdeckt haben, als er auf der Lichtung lag. Sie hatten nicht nur die Augen genommen, sondern auch an seinem Gesicht herumgepickt und blutige Löcher hinterlassen, in denen ich weiße Knochen erkennen konnte. Kleine Fleischfetzen bedeckten sein Hemd und waren rings um seinen Kopf verstreut, als hätte der Suchtrupp die Vögel mitten in der Mahlzeit aufgescheucht.
»Wie die anderen«, sagte ein Mann und wandte sich dann von dem Anblick ab.
»Ein Unterschied«, sagte ein anderer. »Er ist nicht angefressen worden. Jedenfalls nicht von Hunden. Bloß die Vögel haben ihn gefunden – die Mistviecher verschwenden wirklich keine Zeit.« Ein jüngerer Mann stürzte in den Wald. Sekunden später drangen würgende Geräusche zu uns herüber. Zwei der
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