Die Nacht des einsamen Träumers.
in der Handtasche?«
»Große Beträge? Was verstehen Sie unter großen Beträgen? Zu Hause haben wir einen Safe, in dem immer etwa zehn Millionen Bargeld liegen. Aber sie nahm sich nur das Nötigste. Außerdem hat man heute doch Geldautomaten, Kreditkarte und Scheckbuch, wozu soll man da viel Geld mit sich herumtragen? O Gott, diesmal hat sie, weil sie nach Palermo wollte und mit unvorhergesehenen Ausgaben rechnete, wahrscheinlich ein paar Millionen mitgenommen. Na ja, sie wird auch Schmuck mitgenommen haben. Es war der armen Ninetta sozusagen zur Gewohnheit geworden, ein bisschen Schmuck einzustecken, wenn sie aus Vigàta wegmusste, auch wenn es nur für kurze Zeit war.«
»Awocato, wie ist der Unfall passiert?«
»Ach, ich muss kurz eingeschlafen sein. Ich bin direkt gegen einen Pfosten gerast. Ich hatte den Gurt nicht angelegt, zwei Rippen sind gebrochen, mehr nicht.« Sein Kinn fing wieder an zu zittern.
»Und wegen so einem Blödsinn hat Ninetta ihr Leben verloren!«
»Es stimmt zwar«, erklärte der Kommentator von »Televigàta«, auf seiner Idee beharrend, »dass das Opfer nicht zum Beten in die Kirche gehen wollte, denn sein Ziel war die Garage.« Aber wer könne ausschließen, dass die Signora, bevor sie nach Palermo fuhr, um ihren Gatten zu trösten, in der Kirche habe innehalten wollen, wenn auch nur für ein paar Minuten, um ein Gebet für den Awocato auf seinem Schmerzenslager zum Himmel zu senden? So passe alles zusammen, dieses Verbrechen sei jener Sekte zur Last zu legen, die mittels Terrors die Kirchen entvölkern wollte. So etwas habe es nicht mal zu Stalins Zeiten gegeben. Man habe es ganz gewiss mit einer erschreckenden Eskalation atheistischer Gewalt zu tun. Auch ein wütender Bonetti-Alderighi benutzte das Wort Eskalation.
»Es ist eine Eskalation, Montalbano! Erst schießt er mit Platzpatronen, dann verletzt er mit einem Streifschuss, und dann tötet er! Von wegen kognitive Valenz, von der Ihr französischer Kriminologe spricht, wie heißt der noch mal, ach ja, Marthes! Wissen Sie, wer das Opfer ist?«
»Ehrlich gesagt, hatte ich noch keine Zeit...«
»Die Zeit kann ich Ihnen ersparen. Signora Joppolo war nicht nur eine der reichsten Frauen in der Provinz, sondern auch die Cousine von Staatssekretär Biondolillo, der mich bereits angerufen hat. Und sie hatte wichtige, ach was, höchstwichtige Freunde in den Kreisen von Politik und Finanz der Insel. Begreifen Sie, was das heißt? Also, Montalbano, wir tun Folgendes, nehmen Sie es mir nicht übel: Die Leitung der Ermittlungen wird, selbstverständlich im Einvernehmen mit dem Staatsanwalt, der Chef der Mordkommission übernehmen. Sie werden ihn unterstützen. In Ordnung so?«
Der Commissario fand das diesmal sehr in Ordnung. Bei dem Gedanken, die unvermeidlichen Fragen von Staatssekretär Biondolillo und sämtlicher Kreise von Politik und Finanz der Insel beantworten zu müssen, war ihm der Schweiß ausgebrochen: bestimmt nicht aus Angst, sondern weil es ihn vor der Welt der Signora Joppolo unerträglich grauste.
Die Ermittlungen der Mordkommission, die zu unterstützen Montalbano sich hütete (auch weil ihn niemand um Unterstützung bat), endeten mit der Festnahme von zwei jungen Drogensüchtigen, die im Besitz von Mopeds waren. Eine Festnahme, die der Haftrichter nicht bestätigen wollte. Die beiden wurden wieder auf freien Fuß gesetzt, und das war es dann mit den Ermittlungen, obwohl Questore Bonetti-Alderighi eifrig bemüht war, Staatssekretär Biondolillo und den Kreisen von Politik und Finanz zu erklären, dass man den Täter sehr bald finden und festnehmen werde.
Natürlich ermittelte Commissario Montalbano parallel dazu selbst, auf Tauchstation, unter der Wasseroberfläche. Er kam zu dem Schluss, dass es binnen kurzem einen weiteren Überfall geben würde. Er hütete sich, dem Questore ein Wort zu sagen, aber Mimi Augello gegenüber erwähnte er es.
»Wie bitte?!«, explodierte Augello. »Du erzählst mir, dass der noch eine Frau tötet, und drehst hier Däumchen? Wenn du wirklich glaubst, was du da sagst, müssen wir was tun!«
»Immer mit der Ruhe, Mimi. Ich habe gesagt, er wird noch eine Frau überfallen und auf sie schießen, aber ich habe nicht gesagt, dass er sie töten wird. Das ist ein Unterschied.«
»Wieso bist du da so sicher?«
»Weil er mit Platzpatrone n auf sie schießen wird, wie er es die beiden ersten Male getan hat. Mir braucht keiner zu erzählen, dass der
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