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Die Nacht des einsamen Träumers.

Die Nacht des einsamen Träumers.

Titel: Die Nacht des einsamen Träumers. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Camilleri
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mit zweierlei ausgestattet: einem Hühnerarschgesicht und einer schrägen Fantasie, mit der er sich immer Komplotte ausmalte. Als erklärter Feind von Montalbano ließ sich Ragonese nicht die Gelegenheit entgehen, ihn mal wieder zu attackieren. Er behauptete tatsächlich, hinter dem fingierten Handtaschendiebstahl, dem die beiden alten Frauen zum Opfer gefallen seien, stecke ein politischer Plan, das Werk bisher nicht identifizierter Linksextremisten. Mit solchen Terroraktionen trachteten diese danach, die Gläubigen davon abzubringen, in die Kirche zu gehen, um einen neuen Atheismus zu fördern. Die Erklärung dafür, dass die Polizei von Vigàta den Pseudohandtaschend ieb noch nicht festgenommen habe, sei in dem unbewussten Zögern zu suchen, das von den politischen Ideen des Commissario herrühre, und die orientierten sich mit Sicherheit weder an der Mitte noch an der Rechten. »Unbewusstes Zögern« betonte der Kommentator gleich zweimal, um Missverständnissen und einer Verleumdungsklage vorzubeugen. Montalbano wurde nicht wütend, er lachte sogar lauthals darüber. Aber am folgenden Tag, als Questore BonettiAlderighi, der Polizeipräsident, ihn zu sich zitierte, lachte er nicht mehr. Der schloss sich gegenüber dem erstaunten Montalbano der These des Kommentators nicht an, aber er schloss sie auch nicht aus und forderte den Commissario auf, »auch« dieser Spur nachzugehen. »Aber, Signor Questore, überlegen Sie doch: Wieviele Pseudohandtaschendiebe braucht es, um alle alten Frauen von Montelusa und Provinz davon abzubringen, in die Frühmesse zu gehen?«
      »Sie selbst, Montalbano, haben gerade eben den Ausdruck ›Pseudohandtaschendiebe‹ benutzt. Ich hoffe, Sie stimmen mir zu, dass es sich nicht um den typischen Modus Operandi eines Handtaschendiebes handelt. Dieser zieht jedes Mal die Pistole und schießt! Grundlos! Er bräuchte nur eine Hand auszustrecken und könnte mühelos die Handtaschen an sich nehmen. Aus welchem Grund sollte er versuchen, diese armen Frauen zu töten?«
      »Signor Questore«, sagte Montalbano, den plötzlich lo sbromo gepackt hatte, die Lust, sein Gegenüber zu verarschen, »eine Waffe, eine Pistole zu ziehen, bedeutet keineswegs den Tod des Bedrohten, sehr häufig hat die Drohung nicht tragische, sondern kognitive Valenz. Zumindest sagt das Roland Barthes.«

      »Wer ist denn das?«, fragte der Questore, dem der Mund offen stand.
    »Ein bedeutender französischer Kriminologe«, log der Commissario.
      »Montalbano, mir ist dieser Kriminologe scheißegal! Der Typ zieht nicht nur die Waffe, er schießt auch!«
      »Aber er trifft seine Opfer nicht. Vielleicht handelt es sich um eine akzentuierte kognitive Valenz.«
    »Tun Sie was«, fiel Bonetti-Alderighi ihm ins Wort.

      »Für mich«, sagte Mimi Augello, »ist das der klassische blöde Junkie.«

      »Mimi, überleg doch mal! Der hat im Ganzen fünfundvierzigtausend und fünfzig Lire geklaut! Wenn er seine Revolverkugeln verscherbelt, verdient er wahrscheinlich mehr! Apropos, habt ihr sie gefunden?«
      »Wir haben vergeblich gesucht. Weiß der Himmel, wo die Schüsse hingegangen sind.«
      »Aber warum schießt dieser Idiot auf die alten Frauen, nachdem sie ihm die Handtasche gegeben haben? Und warum schießt er daneben?«
    »Was heißt das?«
      »Mimi, das heißt, dass er daneben schießt. Basta. Tale, sieh mal, beim ersten Mal können wir denken, er hätte reflexartig reagiert, als der Mann von Signora Tòdaro am Fenster anfing zu schreien. Doch es ist nicht zu verstehen, warum er, statt auf den schreienden Mann zu schießen, auf die Signora geschossen hat, die vierzig Zentimeter vor ihm stand. Mimi, man schießt bei vierzig Zentimetern nicht daneben. Beim zweiten Mal, bei Signorina Mandracchia, hat er geschossen, während er mit der anderen Hand nach der Tasche griff. Die beiden mussten etwa eine n Meter voneinander entfernt gewesen sein. Und auch dieses zweite Mal schießt er daneben. Aber weißt du was, Mimi? Ich glaube, er hat beide Male gar nicht daneben geschossen.«

    »Ach nein? Und weshalb waren die beiden Frauen nicht mal verletzt?«
      »Weil es Platzpatronen waren, Mimi. Weißt du was, lass die Kleidung analysieren, die Signora Erminia an dem Morgen trug.«

      Er hatte Recht gehabt. Am folgenden Tag meldete die Spurensicherung aus Montelusa, dass die Kleidung von Signora Tòdaro sogar bei einer oberflächlichen Untersuchung auf Brusthöhe einen großen Fleck Schießpulverreste aufwies.

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