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Die Nacht des einsamen Träumers.

Die Nacht des einsamen Träumers.

Titel: Die Nacht des einsamen Träumers. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Camilleri
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der ehemalige Eisenbahner, an das Fenster, von dem aus man auf die Straße sah, und rührte sich nicht mehr vom Fleck, bis seine Frau ihm sagte, er könne sich zu Tisch setzen. Signora Erminia trat also durch die Haustür, hüllte sich fest in ihren Mantel, weil es ziemlich kühl war, und machte sich auf den Weg. An ihrem rechten Arm hing eine alte schwarze Handtasche mit ihrem Personalausweis, einem Foto ihrer Tochter Caterina verheiratete Genuardi, die in Forli lebte, einem Foto der drei Kinder des Ehepaares Genuardi, drei Fotos von den Kindern der Kinder des Ehepaares Genuardi, ein Heiligenbildchen mit der heiligen Lucia, sechsundzwanzigtausend Lire in Papiergeld und siebenhundertfünfzig Lire in Münzen. Der ehemalige Eisenbahner Agustinu sagte aus, er habe gesehen, dass hinter seiner Frau, sehr langsam, ein Moped hergefahren sei und der Fahrer einen Helm getragen habe. Plötzlich hatte der Mopedfahrer, als habe er es satt, sich an Signora Erminias Schritt zu halten, den man gewiss nicht schnell nennen konnte, Gas gegeben und die Frau überholt. Dann hatte er etwas Merkwürdiges getan: Nachdem er scharf gewendet hatte, fuhr er zurück und steuerte geradewegs auf die Signora zu. Keine Menschenseele war auf der Straße. Drei Schritte vor Signora Erminia hielt der Fahrer an, stellte einen Fuß auf den Boden, zog einen Revolver und zielte auf die Frau. Und die ging, da sie trotz ihrer dicken Brillengläser nicht mal einen Hund aus zwanzig Zentimeter Entfernung erkennen konnte, seelenruhig und ahnungslos weiter auf den Mann zu, der sie bedrohte. Als Signora Erminia fast Nase an Nase mit dem Mann war, bemerkte sie die Waffe und wunderte sich sehr, dass jemand einen Grund haben könnte, sie zu erschießen.
      »Was ist, mein Sohn, willst du mich umbringen?«, fragte sie, mehr überrascht als erschrocken.
      »Ja«, sagte der Mann, »wenn du deine Handtasche nicht rausrückst.«
      Signora Erminia nahm die Tasche vom Arm und gab sie dem Mann. Inzwischen hatte Agustinu es geschafft, das Fenster zu öffnen. Er lehnte sich so weit hinaus, dass er fast in die Tiefe stürzte, und schrie: »Hilfe! Hilfe!« Da schoss der Mann. Ein einziger Schuss auf die Signora, nicht auf den Mann, der einen solchen Aufstand machte. Die Signora sank zu Boden, der Mann wendete das Moped, gab Gas und verschwand. Auf das Geschrei des ehemaligen Eisenbahners hin öffneten sich mehrere Fenster, Männer und Frauen rannten auf die Straße, der Signora zu Hilfe, die mitten auf der Straße lag. Sofort stellten sie erleichtert fest, dass Signora Erminia nur vor Schreck ohnmächtig geworden war.

    Signorina Esterina Mandracchia, fünfundsiebzig Jahre alt, pensionierte Grundschullehrerin, nie verheiratet gewesen, lebte allein in einer Wohnung, die sie von ihren Eltern geerbt hatte. Das Besondere an den drei Zimmern, Bad und Küche von Signorina Mandracchia war, dass die Wände vollständig mit Hunderten von Heiligenbildchen tapeziert waren. Außerdem gab es kleine Heiligenfiguren: eine Madonna unter einer Glasglocke, ein Jesuskind, einen heiligen Antonius von Padua, einen Gekreuzigten, einen heiligen Gerlando, einen heiligen Calogero und weitere, nicht ohne weiteres identifizierbare Heilige. Signorina Mandracchia ging immer in die Frühmesse und später noch in die Andacht. An diesem Morgen, zwei Tage nachdem auf Signora Erminia geschossen worden war, verließ die Signorina das Haus. Wie sie später Commissario Montalbano erzählte, war sie gerade in die Straße mit der Kirche eingebogen, als sie von einem Moped überholt wurde, auf dem ein Mann mit Helm saß. Nach wenigen Metern wendete das Moped scharf, fuhr zurück, hielt wenige Schritte vor der Signorina, und der Mann zückte einen Revolver. Die ehemalige Lehrerin sah trotz ihres Alters sehr gut. Sie hob die Hände, wie sie es im Fernsehen gesehen hatte. »Ich ergebe mich«, sagte sie zitternd. »Her mit der Handtasche«, sagte der Mann.

      Signorina Esterina nahm sie vom Arm und gab sie ihm. Der Mann packte sie und schoss, traf aber nicht. Esterina Mandracchia schrie nicht und fiel nicht in Ohnmacht: Sie ging einfach ins Kommissariat und erstattete Anzeige. In der Handtasche, gab sie an, habe sie, außer gut hundert Heiligenbildchen, genau achtzehntausenddreihundert Lire gehabt. »Ich esse weniger als ein Spatz«, erklärte sie Montalbano. »Ein panino reicht mir für zwei Tage. Wozu soll ich da mit Geld in der Handtasche herumlaufen?«

    Pippo Ragonese, Kommentator bei »Televigàta«, war

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