Die Nacht des einsamen Träumers.
mein Vater floh. Nicht einmal von seiner Reise, die schrecklich gewesen sein muss, hat er mir jemals erzählt. Ich glaube, dass er alles vergessen wollte oder dass er durch das Trauma sein Gedächtnis teilweise verloren hat. Die logische Schlussfolgerung war also, dass er in dieser Bar in Rom jemanden gesehen hat, der ihn so schmerzhaft in die Vergangenheit zurückgeholt hat, dass er sich hinter einer Zeitung verstecken musste.«
»Das ist eine logische, aber völlig unwahrscheinliche Erklärung. Als Möglichkeit, meine ich. Dass er ausgerechnet an diesem Tag und zu die ser Uhrzeit in irgendeiner Bar in Rom auf einen Landsmann trifft, der...«
»Wollen Sie das völlig ausschließen?« Montalbano dachte nach. »Völlig nicht.«
»Dann kann ich weitersprechen, ohne dass Sie mich für
verrückt halten. Ausgehend von dieser Vermutung, versuchte ich, mehr darüber zu erfahren. Und habe etwas getan, was mich schon manchmal gereizt hat, ich aber nie gewagt habe.«
»Nämlich?«
»Mir die Unterlagen meines Vaters anzusehen. Eine speckige kleine Mappe, die er in einer Schublade der Kommode unter der Wäsche aufbewahrte. Da war eine vergilbte Fotografie, ein Paar mit zwei Kindern, eines war sicher mein Vater. Die anderen waren wohl die Eltern und Carol, sein ein Jahr älterer Bruder, der auch barbarisch ermordet wurde. Da war der Entwurf seines Einbürgerungsantrags. Das Buchhalterdiplom. Die Heiratsurkunde und der Totenschein meiner Mutter. Meine Geburtsurkunde. Und ein gelber Zettel, rumänisch geschrieben. Darauf stand: ›Zur zukünftigen Erinnerung. Die Mörder meiner Familie sind Anton Petrescu, Virgil Cordeanu, Petre Lupescu und Cezar Pascaly, der in meinem Alter ist.‹ Dann der Satz: ›Bei meiner Ehre, das ist die Wahrheit‹, und die Unterschrift. Wenn mein Vater geschrieben hatte, dass Pascaly in seinem Alter war, dann waren die anderen alle älter. Der Einzige auf der Liste, der noch lebte, musste demnach Cezar Pascaly sein. Ich flehte meinen Mann an, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um die Namen der Teilnehmer der rumänischen Reisegruppe herauszufinden. Es gelang ihm.«
»Und natürlich war der von Cezar Pascaly dabei.«
»Nein, Commissario, er war nicht dabei.«
»Er kann seinen Namen geändert haben, aber Ihr Vater wird ihn trotzdem erkannt haben.«
»Das dachte ich auch. Und da jede weitere Nachforschung unmöglich war, sagte ich mir, müsse man eben die von den Carabinieri gegebene Erklärung akzeptieren. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, sah ich mir die Namensliste an, die ich auf den Küchentisch gelegt hatte. Sie war alphabetisch geordnet. Erst da merkte ich, dass ich nur unter dem Buchstaben P nachgesehen hatte. Ich fing noch mal beim Buchstaben A an. Und plötzlich hatte ich einen der vier Namen vor mir, die mein Vater aufgeschrieben hatte: Virgil Cordeanu, achtundsiebzig Jahre alt, geboren 1920 in Deva. Er reiste in Begleitung seines fünfzigjährigen Sohnes Ion. Da rekonstruierte ich diese ganze schreckliche Geschichte so: In dieser verfluchten Bar in Rom erkennt mein Vater Cordeanu, einen der Mörder seiner Familie. Irgendwie schnappt er die Telefonnummer des Hotels auf, in dem seine ehemaligen Landsleute untergebracht sind. Er notiert sie sich. Im Augenblick ist er zu sehr durcheinander, um etwas zu tun. Vor dem Abendessen ruft er von seinem Hotel aus in Cordeanus Hotel an und lässt sich mit ihm verbinden. Sie sprechen miteinander und verabreden sich.«
»Was, glauben Sie, wollte Ihr Vater mit dem Treffen erreichen?«
»Nichts Materielles, glauben Sie mir. Ich bin überzeugt, dass er ihn treffen wollte, um ihn zu fragen, ob er bereue oder etwas in der Art. Ob er seine Sünde gebeichtet habe. Ich glaube jedoch, dass nicht Virgil Cordeanu zu dem Treffen gegangen ist, sondern sein Sohn Ion.«
»Denken Sie, dass Ion über die Vergangenheit seines Vaters Bescheid wusste?«
»Vielleicht ja. Oder Virgil hat ihn nach dem Telefongespräch darüber in Kenntnis gesetzt. Jedenfalls hat er nicht gezögert, einen gefährlichen Zeugen auszuschalten.«
»Gefährlich, Signora? Einem alten Mann von achtundsiebzig Jahren?«
»Na ja, Commissario, Sie vergessen den SS-Führer Priebke.«
»Aber der Fall scheint mir anders zu liegen.«
»Ich hatte auch meine Zweifel. Und begann Informationen zu sammeln. So fand ich heraus, dass mein Vater weniger für Virgil Cordeanu, als vielmehr für dessen Sohn Ion eine Gefahr bedeutete. Von der prosowjetischen
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