Die Nacht des Schierlings
wäre die ganze. Sie hätte auch gerne ihre Hand auf seine gelegt, doch er saß am Kopf des Tisches, der war groß und er zu weit von ihr entfernt. Aufstehen, sich zu ihm setzen – ganz einfach. Es war nicht einfach.
«Natürlich vertraue ich dir», sagte er endlich, «so sehr wie niemandem sonst. Mehr als Christian und Augusta, als Bocholt», nun schlich sich ein Lächeln in seine Mundwinkel, «aber der alte Kerl ist so stoisch, da wird es sowieso nie eine Überraschung geben. Weder im Guten noch im Schlechten.»
Sie nickte mit verhaltener Ungeduld. «Dann verrate mir, was in der Nacht wirklich passiert ist. An diesem fatalen Montagabend. Ja, ich weiß, jemand hat versucht, dich auszurauben, du hast dich losgerissen und bist davongerannt. Der Räuber ist mit deinem Knopf zurückgeblieben. Warum habe ich das Gefühl, mein Lieber, dass das nicht alles ist? Und wieso entstehen daraus diese fatalen Gerüchte? Ich habe auch davon gehört, auf dem Markt.» Sie fand es überflüssig, Madam Schwarzbachs dumme kleine Farce zu schildern. «Wie Christian in Jensens Kaffeehaus. Es sind doch nur Gerüchte? Claes? So sprich mit mir. Lass mich damit nicht allein.»
«Dann kannst du dir vorstellen, dass ich einen Mann getötet habe?»
«Nein! Oder doch? Warum eigentlich nicht? Es kann jedem passieren. Als Unglücksfall oder wenn man bis aufs Blut gereizt wird und blind zuschlägt. Wenn man genug Wein getrunken hatte. Du bist doch auch nur ein Mensch. Ja, auch der große Claes Herrmanns ist nur ein Mensch. Aber ich glaube gar nicht, dass du es getan hast. Nur – was soll ich glauben? Fangen wir am Anfang an: Ich glaube nicht an eine Liaison mit Jungfer Runge. Auf keinen Fall. Ich kann es mir nicht vorstellen, und ich hätte es gemerkt. Ich glaube auch nicht, dass du Hofmann getötet hast, jedenfalls nicht absichtlich. Dennoch frage ich mich, warum du deinen Rock – nun, nicht gerade versteckt, aber doch in einem ungewöhnlichen Winkel verstaut hast, anstatt ihn mir oder Elsbeth zu geben. Und vor allem frage ich mich, warum du nicht erlaubt hast, dass Frederking ihn repariert. Oder auch nur ansieht. Das hast du sehr entschieden verhindert, es war peinlich. Ich nehme an, er fand das auch bemerkenswert und hat diese Gerüchte in die Welt gesetzt, niemand sonst konnte von dem Riss und dem Loch in deinen Kleidern wissen. Und dass der Knopf fehlt. Was willst du tun, wenn jemand kommt, dir den Knopf entgegenhält und – ach, ich weiß nicht was. Erzählst du mir nun, was wirklich geschehen ist? Bitte, Claes, ich muss es wissen. Vertraue mir endlich.»
Während ihrer letzten Sätze hatte er seine Stirn in die Hände gestützt, als er nun aufsah, erschrak sie. Sein Gesicht war bleich, seine Augen gerötet, als unterdrücke er Tränen. Er war einer der Männer, die weinen konnten, sehr selten, und es beschämte ihn, aber sie hatte ihn weinen sehen, und es hatte sie berührt. Weil er damit zeigte, dass auch er berührbar war. Es hatte geholfen, ihn zu lieben. Wäre er jünger gewesen, als sie ihn zuerst traf, wäre er gewesen wie jetzt Christian, hätte sie sich vielleicht in ihn verliebt, in seine Gestalt, seinen Charme, seine Bedeutung. Aber sie hätte ihn nicht geliebt. Nun, endlich, setzte sie sich zu ihm.
Leider klopfte es just in diesem Moment an die Tür, leider wurde sie auch gleich geöffnet, nicht Valerie trat ein, sondern Augusta.
«Eigentlich solltet ihr beiden nun nicht gestört werden», sagte sie ruhig, «deshalb habe ich es übernommen, den Besuch anzumelden. Claes», wandte sie sich an ihren Neffen, «in der Diele steht der Weddemeister. Ich habe ihn gebeten, später oder besser noch morgen wiederzukommen, er muss dich aber gleich sprechen. Du kennst ihn und weißt, wie unangenehm es ihm sein wird, dir Fragen stellen zu müssen. Natürlich ist es deine Entscheidung, niemand kann dich zwingen, ihn zu empfangen, ich denke nur, wenn du sowieso mit ihm reden musst, dann am besten so bald wie möglich. Er hat auch irgendetwas von einem Knopf gemurmelt, den er dir zeigen muss.»
Anne entfuhr ein kurzes, schrilles Kichern, es klang nicht vergnügt, es klang panisch, und Claes nahm ihre Hand.
«Danke, Augusta, du hast völlig recht.» Er erhob sich, ging an ihr vorbei und trat hinaus auf die in Höhe des ersten Stocks umlaufende Empore und beugte sich über das Geländer.
Wagner stand unten in der Diele, das Gesicht gerötet, als herrsche an diesem kühl gewordenen Oktobernachmittag Julihitze, die Hände hinter dem
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