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Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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Rücken verschränkt, wippte er auf den Fußspitzen auf und ab. Als er oben Schritte hörte, blickte er hinauf. Ein Weddemeister wurde in solchen Häusern zumeist in der Diele abgefertigt, was er als normal, aber auch als kränkend empfand. In diesem Haus war er stets respektvoll behandelt worden, bei einigen Gelegenheiten sogar überaus gastfreundlich. Heute wäre ihm eine schroffe Behandlung lieber gewesen, denn die machte ihn kühl, streng und jagdlustig. Beides brauchte er jetzt. Leider bat Claes Herrmanns ihn auch heute freundlich die Treppe herauf.
    «Das trifft sich gut, Wagner», fügte er mit bemühtem Lächeln hinzu. «Ich spreche gerade mit Madam Herrmanns über diese fatale Nacht, deren Ereignisse gewiss auch Euch in mein Haus führen. So muss ich die Geschichte nur noch einmal erzählen, und wir können gemeinsam reinen Tisch machen.»
     
    «Das war alles? Wirklich alles?» Seltsamerweise fühlte Anne Herrmanns so etwas wie Ärger, wo sie erleichtert sein sollte. Nicht nur ihr Ehemann sah sie irritiert an, auch Weddemeister Wagner wandte sich ihr zu. Sein Blick allerdings war nur noch wachsamer geworden.
    «Aber ja. Du wirst doch nicht angenommen haben …» Claes Herrmanns brach mitten im Satz ab, was er sonst gern als Unsitte und Zeichen von Unentschlossenheit kritisierte.
    «Nein. Natürlich nicht.» In Gegenwart des Weddemeisters bemühte sich Anne, jedes Wort abzuwägen und zugleich leichthin klingen zu lassen. «Ich dachte nur, weil du doch recht bedrückt warst, dass du vielleicht etwas gesehen hast, etwas, das dich – das dich eben bedrückt.»
    «Bedrückt, aha.» Wagners Blick ging rasch zurück zu Claes Herrmanns. Mit Kleinigkeiten wie Bedrücktsein kannte er sich nicht gut aus. Er kannte sich sehr gut aus mit Angst, Frechheit, Mordlust, Lügerei, noch mehr und noch größerer Angst. Mit Verzweiflung. Seine Arbeit führte ihn aber auch höchst selten in ein Haus wie dieses, dessen Bewohner sich einer anderen Redeweise bedienten als die ärmere Mehrheit in der Stadt. Dass die Menschen sich in der Tiefe ihrer Seele unterschieden, ob sie nun in einer maroden Bude oder einem herrschaftlichen Haus lebten, glaubte er nicht mehr. Aber ob sie Not litten oder im Wohlstand lebten, bestimmte doch ihr Verhalten und ihr Fühlen mit. Das erlebte er alle Tage. Zwar erlebte er auch, dass gerade mancher Reiche jeden Pfennig dreimal umdrehte, bevor er ihn in den Gotteskasten für die Armen warf. Trotzdem würde sich einer, der Silberknöpfe an der Weste trug, um einen solchen Knopf kaum prügeln, auch schwerlich in Versuchung kommen, ihn zu unterschlagen. Einem, der seine Kinder nicht satt bekam hingegen, wurde so ein Silberding weniger zur Versuchung als zur guten Gelegenheit, womöglich zum Gottesgeschenk. Aber hier ging es nicht um den pekuniären Wert, sondern um ein Indiz für die Anwesenheit Claes Herrmanns’ und einen Streit in der Mordnacht nahe dem Tatort. Und das war erheblich.
    Dieser blöde Knopf, wie Rosina ihn unwirsch bezeichnet hatte, lag auf dem Tischtuch aus weißem Damast, genau in der Mitte zwischen Wagner und dem Hausherrn. Dort hatte er ihn gleich nach seinem Eintreten hingelegt, da lag er nun, sah harmlos aus und doch so, als wolle er ein Loch in die teure Tischwäsche brennen.
    «Ich nehme an, Monsieur Herrmanns», nahm er das Gespräch wieder auf, «Euch hat weniger der Verlust des Knopfes – wie sagtet Ihr, Madam?, bedrückt, ja. Obwohl er ein Gegenstand von einigem Wert ist, jedenfalls für viele in der Stadt. Wenn ich wiederholen dürfte, was Ihr zu dieser Nacht erklärt habt, da ist nur Eure Begegnung mit Meister Hofmann bedeutsam. Nicht wahr? Ein Mann ist in der Dunkelheit nach Euch über die Brücke beim Hospital gekommen, er war ekelhaft betrunken. Ja, das war er wohl. Er hat Euch angesprochen, mehr gelallt, Ihr konntet nichts verstehen, dann hat er versucht, Euch festzuhalten, Ihr habt ihn zurückgestoßen, weil er Euch so ekelte, da hat er sich an Eurem Rock festgehalten und den Knopf herausgerissen.»
    «Richtig, genau so war es.»
    «Mit einem ganzen Fetzen Stoff.»
    Claes Herrmanns nickte. «Ich habe inzwischen so oft darüber nachgedacht, manchmal weiß ich gar nicht mehr, was wirklich geschehen ist und was ich mir dazuphantasiere. Aber tatsächlich hat er sich an mir festgekrallt, ich habe das gespürt, meinen Rock mit einer Hand gefasst und ihn mit der anderen zurückgestoßen. Ich habe das Reißen des Stoffes gehört. Das weiß ich noch genau. Er ist gestolpert und

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