Die Nacht des Schierlings
brauchst den Jungen – wenn ich es richtig sehe, heute sogar ganz besonders. Zumindest solltest du ihm das Rechnen überlassen, besser auch das Abwiegen. Ich könnte seine Hilfe später auch brauchen. Obwohl ich dir nachher etwas zeigen will, das dich freuen wird.»
An jedem anderen Tag hätte Leubold bei diesen Worten sofort und in froher Erwartung Aufklärung gefordert, nun hörte er nicht richtig zu. Plötzlich war ihm der tote, nein, der ermordete Konditor eingefallen, Momme war einer seiner wenigen Freunde gewesen. «Lächerlich», murmelte er und nippte wieder an dem immer noch zu heißen Tee, dann stellte er den Becher abrupt auf den Tisch.
«Ich sehe nach, und wenn er schläft, schmeiße ich ihn aus dem Bett. Sofort. Aber vielleicht», er hob steif die Schultern, «vielleicht ist er krank. Das kommt auch in Apotheken vor.»
Momme Drifting wohnte in einem Sahl über der Apotheke, zu dem eine Außentreppe vom Opernhof hinaufführte, über die man auch die beiden in den darüberliegenden Stockwerken erreichte. Als Geländer diente ein dickes Schiffstau, von Wind, Wetter und der Berührung vieler Hände schwarz und glatt. In der Apothekerwohnung lebte es sich besser, die wenigen Stuben waren auch klein, aber höher und geräumiger, die Dielen der Böden, der Putz der Wände, Türen und Fenster waren von besserer Qualität. Aber in Leubolds Wohnung war nicht genug Platz für einen Gesellen, und Momme Drifting war es recht so. Seine Stube dort oben diente letztlich nur zum Schlafen, er hatte sogar darüber nachgedacht, ob er nicht besser eine noch billigere Kammer in einer der umliegenden Wohnungen mietete. Wo immer es möglich war, rückten die Menschen eng zusammen, um eine Stube, eine Abseite, oft nur ein Bett zu vermieten, um nicht samt Kind und Kegel auf der Straße zu landen. Die Mieten in der viel zu engen Stadt waren hoch und stiegen beständig. Wer einen Mieter fand, der seine Arbeit nachts verrichtete, konnte das Bett sogar doppelt vermieten, für den Tag und für die Nacht.
Ganz so übel ging es Drifting nicht, er hatte keine Kinder zu nähren, verstand sein in fünfjähriger Lehrzeit geübtes Gewerbe, hatte Arbeit und machte ein paar kleine Geschäfte nebenher. Was der Apotheker keinesfalls erfahren durfte, selbst wenn er sich nur im Notfall aus dessen Vorräten bediente. Diese Notfälle waren nicht selten, aber wenn Leubold so unachtsam mit seinem Eigentum war, hatte er selbst Schuld. Umso vorteilhafter war eine eigene Wohnung, war sie auch so winzig wie dieser Sahl im Apothekenhaus, eine kleine Stube mit einer noch kleineren, zugleich als Küche fungierenden Diele. Dort oben war er sein eigener Herr. Niemand fragte, was er in seinem Kasten aufbewahrte, oder blickte scheel, wenn er spät nach Hause kam oder spät noch ausging.
Leubold war nicht dumm, wenn Momme auch glaubte, der Apotheker wisse um all das nicht, irrte er, aber es kümmerte ihn nicht. Als er in Momme Driftings Jahren und Stand gewesen war, hatte er es kaum anders gehalten.
Der Wind fuhr ihm in die Kleider, als er aus der Hintertür in den Hof trat, und wehte ihm nieseligen Regen entgegen. Leubold verharrte für einen Moment, hielt das Gesicht mit vorgestrecktem Kinn in die nasse Kühle und spürte, wie immerhin ein oder zwei seiner Lebensgeister erwachten. Dann stieg er die nur zwei Schritte weitere Treppe hinauf. Sie war fast so steil wie eine Leiter. In der obersten Etage wurde ein Fenster aufgestoßen und gleich wieder geschlossen, vielleicht hatte jemand die Schritte auf der Treppe gehört und war neugierig gewesen. Oder erwartungsvoll, was selten zu unterscheiden ist.
Er klopfte heftig an Mommes Tür, als darauf nichts geschah, drückte Leubold die Klinke hinunter. Die Tür war weder abgeschlossen noch von innen versperrt, Leubold wusste, dass Momme vor dem Zubettgehen stets den Riegel vorlegte, erst kürzlich hatte er erklärt, das tue jedermann, der halbwegs bei Verstand und dessen Tür mit einem Riegel versehen sei. Vielleicht war er nur rasch zur Bäckerei am Gänsemarkt gelaufen. Oder erledigte er doch einen Auftrag, den er, Leubold, in seinem betrunkenen Kopf vergessen hatte?
«Momme?» Er trat in den kleinen vorderen Raum. Da standen der gerade zwei Personen Platz bietende Tisch und zwei einfache Holzstühle, auf einem lag ein flaches Kissen, über der Lehne des anderen hing eine Wolldecke. Beim Ofen stand ein Waschtisch mit Schüssel und Kanne, ein Handtuch, das dringend der Wäsche bedurfte, hing an einem Nagel an
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