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Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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fabelhaften Bestellung für Konfekt und süßes Gebäck in der Tasche wieder auf den Jungfernstieg hinaustrat, war es nicht, wie sie angenommen und auch gehofft hatte, erst dämmerig, sondern sehr dunkel. Zudem verdüsterten Wolken den Himmel, die ersten Tropfen fielen, Männer hielten ihre Hüte fest, und Damen schlugen ihre Kapuzen hoch, wer keine hatte, zog rasch ein Tuch von den Schultern über den Kopf.
    Sie musste sich beeilen, ihre Mutter würde sich längst sorgen, auch wenn sie ihr gesagt hatte, neue Kundschaft müsse man sowohl umschmeicheln als auch mit Kenntnissen beeindrucken, sie wisse nicht, wie lange es diesmal dauern werde. Magda Hofmann hatte genickt und dabei sehr müde ausgesehen. Nach wie vor war es an Molly, sich zu sorgen. Mal ging es der Meisterin besser, dann wirkte sie fast heiter und stürzte sich in die Arbeit, mehr als je zu Bruno Hofmanns Zeiten. Mal war ihr Gemüt dunkel und sie ohne Kraft. Heute war wieder einer ihrer tiefgrauen Tage.
    Molly wickelte sich in ihren Umhang, von Jungfernstieg und Alster wehte scharfer Wind herüber, so entschied sie sich gegen den Weg über die Neue Wallstraße, sondern lief am Rand des Platzes entlang und bog in die Hinter den Bleichen genannte Gasse ein. Der Wind wehte hier tatsächlich nicht so scharf, und wenn sie nahe an den Hauswänden entlangging, gaben die vorkragenden alten Giebel ein wenig Schutz vor dem stärker werdenden Regen. Nicht bedacht hatte sie allerdings, dass es in dieser Gasse, anders als entlang des Jungfernstiegs und der Neuen Wallstraße, keine Laternen gab, dass in der Schlucht zwischen den hoch aufragenden alten Backstein- und Fachwerkfassaden das Echo ihrer eigenen kaum vom Klang fremder Schritte zu unterscheiden war, dass ihr just hier, wo sie kein Fleet passierte, das Bild ihres hilflos sterbenden Stiefvaters plötzlich deutlich vor Augen stand. Es waren nur die Dunkelheit, nur die letzten nach Hause eilenden Gestalten, der Wind, der irgendwo in einem der Hinterhöfe eine Plane knattern, einen losgerissenen Fensterflügel klappern ließ. Und dann versperrte plötzlich ein querstehender Wagen die Gasse. Dahinter, das konnte sie mehr vermuten als erkennen, waren ganze Teile eines der alten Dächer herabgestürzt. Also deshalb war hier kaum mehr jemand unterwegs, es hatte sich herumgesprochen, dass kein Durchkommen mehr war, dass Steine und Ziegel herabfallen könnten.
    Und nun? Zurück? Dazu war nun keine Zeit. Sie kannte sich hier aus, in direkter Nachbarschaft zu den Straßen, in denen sie aufgewachsen war. Sie musste sich nur nach Süden halten, dorthin, wo es etwas heller war, weil es über dem dort verlaufenden, breitgefächerten Elbefluss immer heller war. Also zögerte sie nur kurz, bevor sie tapfer in die Dunkelheit des Hofes tauchte, hinter dem sie einen Durchgang wusste, dann noch einen und noch einen, bis sie in der Fuhlentwiete war. Von dort führten breite, auch um diese Stunde belebte Straßen hinunter zum Rödingsmarkt. Töricht, sich zu fürchten! Es war erst Abend, noch längst nicht tiefe Nacht, und sie hatte sich auch nicht in die düstersten Ecken des Gängeviertels verirrt, in deren Labyrinth man leicht verloren ging und verloren blieb, dieses Niemandsland lag jenseits der Neustädter Fuhlentwiete.
    Sie hörte das Konzert der Geräusche und Stimmen aus den auch hier bis in die letzte Abseite bewohnten alten Häusern und dachte, sie müsse ja nur schreien, wenn Gefahr drohte. Sie tastete sich weiter vorwärts, wie früher, wenn sie im Dunkeln in den Hof geschickt wurde, um etwas zu holen, einen Korb Holz für den Ofen vielleicht oder einen Eimer Wasser aus dem schwarz glucksenden Graben.
    Es nützte nichts, da war etwas hinter ihr, bewegte sich verstohlen in ihrem Rhythmus, mit größeren, dafür langsameren Schritten. Hastig bog sie noch einmal ab und begriff, dass sie, wohin sie sich nun auch wandte, auf unbekanntem Weg ging. Also hastete sie weiter, stieß einmal gegen einen Karren, spürte kaum den schneidenden Schmerz im Knie, sie wäre gerne stehen geblieben, um sich umzusehen, um mit einem Messer zu drohen, aber sie hatte kein Messer, und sie hatte keinen Mut. Plötzlich hörte sie ihren Namen flüstern, noch einmal, heiser diesmal, hohl und fremd, Angstschauer jagten über ihren Rücken, und dann wurde es plötzlich heller, eine Hecke wuchs vor ihr aus der Dunkelheit, es roch nach nassem Laub, moderig, nach würzigem Kraut. Bevor sie richtig begriff, dass sie am Rand des alten Ratsapothekergartens

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