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Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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Phantasie hervorgetan hatte. Er war nicht bereit und wohl auch nicht in der Lage, Claes Herrmanns anders zu sehen als honorigen Kaufmann und guten Ehemann. Punktum.
    Bocholt, dachte Herrmanns nun, würde sich wie immer zu ihm setzen, wenn sich das Kaffeehaus nachher füllte, wenn der Strom der Männer nach Börsenschluss um zwei Uhr in Jensens Räume drängte und alle gleichzeitig bedient werden wollten. Egal, wie viele sich eilig vorbeischieben mochten, der sture alte Bocholt wäre brüskiert, hielte Claes ihm keinen Platz an seinem Tisch frei.
    Er lehnte sich zurück, schlug ein Bein über das andere und spürte nun doch die Leichtigkeit und Zufriedenheit, die er Sonnin gezeigt hatte. So einfach stieß ihn nichts um, ließ er sein Leben und das der Menschen, die er liebte, nicht mit einer unglücklich verlaufenen Nacht und daraus resultierenden üblen Verdächtigungen beschädigen. Er war keiner, der am Rand stand und leicht hinüberzukippen war. Einen Sturm, ein Stürmchen wie dieses, überstand er unbeschadet, da war er sicher. Wenn er nach Börsenschluss hier wie immer saß, den Kopf erhoben, Sicherheit und Gelassenheit im Blick, würde es auch sein wie immer. Niemand würde an ihm vorbeisehen oder plötzlich mit anderem beschäftigt sein, zu sehr in ein Gespräch oder eine Lektüre vertieft, um ihn zu begrüßen oder ein Wort mit ihm zu wechseln. Es würde sein wie immer, es lag nur an ihm selbst. Er hätte schon eher kommen sollen, nur seine Abwesenheit bei alltäglichen Treffen hatte die Verdächtigungen blühen lassen, damit war nun Schluss, das war …
    Bevor er diese erfrischenden Gedanken weiterspinnen konnte, drängten sich die Worte eines Gesprächs im Nebenraum in sein Bewusstsein. Bisher waren die beiden Männerstimmen zu leise gewesen, in seinem Ohr nur ein Gemurmel, nun war es anders. Sie kamen aus dem hinteren Raum, gleich neben der weitgeöffneten Doppeltür stand auch dort ein Tisch, Claes hatte selbst schon daran gesessen.
    «Genauso sehe ich das auch», sagte die tiefere Stimme, «nun haben sie so ein armes Schwein eingekerkert, einen Fahrenden, dem kann man alles in die Schuhe schieben, und die Sache ist erledigt. Manche der Großbürger hier sind unantastbar wie die Fürsten. Richtig ist das nicht.»
    «Besonders, wenn dafür ein anderer hängen muss. Aber etwas verstehe ich da doch nicht, es heißt, der Junge im Kerker ist ein Bruder oder Halbbruder, was weiß ich, von der Madam, dieser ehemaligen Komödiantin, mit der Herrmanns auch eine Liaison hat. Das ist doch eigenartig.»
    Claes Herrmanns saß wie festgefroren auf seinem Stuhl, die Zeitung in der halberhobenen Hand, die geleerte Kaffeetasse in der anderen. Die nächsten Worte konnte er nicht verstehen, dann ging es wieder etwas deutlicher weiter.
    «Nein, das glaube ich nicht. Der soll ja nicht ganz klar im Kopf sein, solchen Jungen geht schon mal die Beherrschung verloren, und die schlagen dann zu. Die werden oft übel gehänselt, das ist nicht schön, natürlich nicht, aber was will man machen, so hat jeder sein Schicksal.»
    «Vielleicht hat der Junge gestört, das ist möglich. Ein paar Hinweise an der richtigen Stelle, ein ordentlich bezahlter Zeuge, und schon verschwindet einer im Loch. Bei Bedarf auf Nimmerwiedersehen. Aber sag mal, hat die nicht auch noch einen Ehemann? Der soll ein Bürger sein und nicht ganz arm. Dass der sich das bieten lässt!» Ein schnarrendes, entfernt an ein kehliges Lachen erinnerndes Geräusch unterbrach die Rede.
    «Das wird man noch sehen», führte die andere Stimme im angeregten Ton weiter. «Wer weiß, vielleicht gibt es bald den nächsten Toten.»
    Darauf klang das Lachen schon etwas heiterer. Claes Herrmanns warf die Zeitung auf den Tisch, eine Münze daneben und ging hinaus. Er hatte sich geirrt und seine Wünsche mit der Realität verwechselt. Es war eben doch nicht alles wie immer. Er hätte gerne nachgesehen, wer dort hinter der Wand saß und solche Reden führte, die Stimmen klangen hamburgisch, aber er hatte sie nicht erkannt, und falls es dennoch gute Bekannte oder Handelspartner waren, Freunde gar oder Freunde von Freunden, womöglich hätten sie recht gehabt und es hätte sofort – nun, wohl nicht den nächsten Toten, aber einen ausgeschlagenen Zahn und zwei blaue Augen gegeben. Den Gefallen wollte er ihnen nicht tun.
    Er ging nicht auf direktem Weg nach Hause, zuerst wollte er sein inneres Gleichgewicht wiederfinden. Er war wütend und verzagt zugleich, fühlte sich ausgeliefert.

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