Die Nacht des Schierlings
angekommen war, sah sie einen Mann, eine schwarze Silhouette, er kam rasch näher, leicht wie ein Schatten, aber von vorne, nicht von dort, wo sie hinter sich ihren Namen gehört hatte. Da warf sie sich in die Hecke, den einzigen Ausweg, zwängte sich durch die kratzenden Zweige, achtete nicht auf den reißenden Stoff ihrer Röcke, auf blutige Schrammen an ihren Armen, auf ihrer Stirn, stolperte, fiel, duckte sich keuchend in das moderige Laub und gab auf.
Und dann geschah etwas Seltsames. Aus dem Schatten vor ihr und der Stimme und den Schritten hinter ihr wurden zwei Männer, die zusammenprallten, die begannen, miteinander zu ringen, Molly hörte sie keuchen, blickte endlich auf, ein klein wenig nur unter dem schützend über den Kopf gelegten Arm hervor, und sah eine Faust gegen den Himmel gereckt, eine weißschimmernde Hand, die sich um sie klammerte, hörte wieder ein Keuchen, dann war es still, nur schweres Atmen, die Geräusche der Stadt scheinbar ganz fern.
«Molleken, bist du noch da? Ich hab dich durch die Hecke kriechen sehen. Schlaues Mädchen. Kannst jetzt rauskommen, ich hab ihn. Halt still, Kerl! Oder du hast ’n Stein auf deinem Schädel.»
«Ludwig?» Sie hätte fast geweint vor Freude, als sie die Stimme erkannte. Aber weil sie eine praktische Person war, hielt sie sich damit nicht auf, sondern zwängte sich ungeachtet zweier weiterer Risse in Rock und Bluse und des Verlustes ihres Umhangs durch die Hecke zurück auf den Weg. Ludwig, aus der Nähe selbst in der Dunkelheit unverkennbar, hockte auf der Erde, sein ganzes Gewicht auf dem Knie, das auf die Brust eines unter ihm liegenden Mannes drückte.
«Wir haben uns Sorgen gemacht, wo du so lange bleibst», erklärte er seelenruhig, allerdings immer noch schwer atmend, «ich wollte sehen, ob ich dich finde, und als die Gasse gesperrt war, bin ich andersrum gegangen. Zum Glück.»
Bevor Molly antworten konnte, kam ein Stöhnen aus dem Mund des Mannes unter Ludwigs Knie. «Könntet Ihr bitte aufhören, meine Rippen zu brechen?», presste er mühsam hervor. «Ihr habt den Falschen erwischt, ich bin Mamsell Runge nur gefolgt, damit ihr nichts geschieht.»
Ludwig drückte noch ein bisschen fester zu. «So was würd’ ich auch behaupten, wenn ich an deiner Stelle wär’.»
Aber Molly beugte sich erschreckt zu dem Mann im Schatten von Ludwigs breiten Schultern hinunter. Im Morast des Weges lag, beide Arme ergeben von sich gestreckt, jemand mit einem vertrauten Gesicht.
KAPITEL 13
G estern, am Tag nach dem Fund des toten Momme Drifting, war die Apotheke beim Opernhof geschlossen gewesen, was von Pietät, aber wenig Geschäftssinn zeugte. Denn wie eine Woche zuvor bei den Hofmanns hatte ständig jemand vergeblich an die Apothekentür geklopft.
An diesem Morgen war es wie gewohnt still, aber so rasch erstarb die Neugier nicht, der Tag war noch jung, gut möglich, dass einige, die gestern wieder gegangen waren, es heute erneut versuchten. Das hoffte jedenfalls Gerrit Leubold, wenn er es auch zugleich verabscheute. Leider konnte er sich solche Empfindlichkeiten nicht erlauben. Dabei hatte er heute doppelten Grund, den Riegel nur widerwillig zurückzuschieben – sein Anblick würde die Leute noch neugieriger machen.
Ein kleines Glöckchen schlug an, als Rosina die Tür der Apotheke beim Opernhof öffnete und eintrat. Der Apotheker hinter dem Rezepturtisch nahm gerade eine der runden Lindenholzdosen aus dem Repositorium, offenbar suchte er etwas in den Gefäßen aus schlichtem Holz, bemaltem Glas und Fayence, die auf den Regalbrettern nicht mehr ganz akkurat in ihren Reihen standen. Auch im unteren, dem Schubladenteil, waren zwei Laden halb herausgezogen, und als er sich zu ihr umwandte, zeigten seine Augen noch einen Schimmer von Ratlosigkeit.
«Ich bin sofort für Euch bereit, Madam, wenn Ihr erlaubt – nur eine kurze Notiz …»
Er beugte sich über einen schon zur Hälfte mehr bekritzelten als beschriebenen Papierbogen auf dem Rezepturtisch, tauchte die Feder ins Tintenglas und schrieb eilig. Die Feder hakte und kleckste, der Kiel brauchte das Federmesser. Sein dunkelbrauner Rock aus einfachem Tuch musste dringend ausgebürstet werden, die Ärmel waren ein wenig zu kurz, was daran liegen mochte, dass er ihn gebraucht und nicht völlig passend erstanden hatte oder kürzere Ärmel ihn bei seiner Arbeit weniger störten. Rosina hielt Ersteres für wahrscheinlicher. Hemd und Halsbinde waren hingegen taufrisch, ungewöhnlich an einem normalen
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