Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
Vom Netzwerk:
Sein Reichtum, seine Stellung – alles, was ihm sein Leben lang ein selbstverständlicher Schutzwall war, schützte nur seine Fassade. Das war mehr als nichts, aber jetzt zeigte sich seine Brüchigkeit. Als die Wut nachließ, kroch in ihrem Gefolge wieder die Schuld heran, und er wünschte sich die besser erträgliche Wut zurück. Mittlerweile hatte er den Messberg erreicht, ging immer am Wasser entlang und ertappte sich dabei, wie er sich vom Rand fernhielt, als könne er in den Fluss gestoßen werden.
    Endlich blieb er stehen und sah sich um. Da war viel Volk unterwegs, es war ja heller Tag und Mittag, aber niemand beachtete ihn. Der Himmel war grau, die Luft feucht und kalt, jedermann schien in Eile. Wer dennoch stehen blieb, beobachtete zumeist die Reihe der schwer mit Balken, Brettern und Steinen beladenen Fuhrwerke, die von jeweils vier mächtigen Kaltblütern gezogen wurden. Die Kutscher lenkten die schweren Gefährte mit lauten Rufen und geschicktem Umgang mit den Zügeln aus der mit kunstvollem altem Schnitzwerk gerahmten Einfahrt des Bauhofs und durch die gaffende Menge zum Schützenwall.
    Claes Herrmanns überquerte die Brücke zur Bastion Ericus, um von dort zur Wandrahminsel hinüberzugelangen, und schritt nun rasch aus. Sehr rasch. Die Schuld saß ihm noch im Nacken, ihn drückte und drängte die Gewissheit, eine Minute falsch gehandelt zu haben. Nur eine Minute. Hätte er den betrunkenen, wie man nun hörte womöglich vergifteten Hofmann nicht weggestoßen, sondern sicher über die Brücke und nach Hause begleitet, wäre all das nicht geschehen. Und vielleicht – wer mochte das wissen? – lebte dann auch noch der arme Apothekergeselle.
    Jetzt wollte er nur heim. Und wie hatte Anne gesagt? Ein Glas von Augustas berüchtigtem Rosmarienbranntwein sei immer ein gutes Mittel. Plötzlich durchflutete ihn eine tiefe Dankbarkeit für sein sicheres Zuhause. So tief, dass es seine Augen mit Tränen füllte. Zum ersten Mal in seinem langen Leben verstand er wirklich, dass alles andere nichts zählte ohne dieses Zuhause und die Menschen, die ihn liebten.
     
    D er neue Gasthof Zum Alsterschwan stand an der Ecke Jungfernstieg und Gänsemarkt. Seine Diele zeugte von gediegener Vornehmheit, sie war genau das, was wohlhabende und weltoffene Hanseaten zu schätzen wussten. Es gab einen Durchgang zu einer Weinstube, deren Wände – wie es sich gehörte – mit Paneelen aus poliertem dunklem Holz verkleidet waren, allerlei Schnitzereien von Weinreben, Bacchus und kleinen bacchantischen Szenen, Tische für kleine und große Runden. Die Diele jedoch war wie der Treppenaufgang licht, die Möbel neu und zierlich, die Wände in hellen Farben gestrichen, hinter dem Empfangstisch sogar mit zart gestreiften englischen Tapeten beklebt, an der weißen Decke feine Stuckarbeiten in geschwungenen leichten Formen. Das alles erinnerte Molly an das große Speisezimmer und den Tanzsaal im Haus der Herrmanns, auch das Rauchzimmer dort war, wenngleich mit kostbaren, szenisch bemalten Tapeten und Wandbehängen ausgeschmückt, heiter und hell. Dort dominierten jetzt Weiß und Gelb, hier Weiß und Hellblau. Der Gasthof atmete eine neue Zeit, nichts war altväterlich, alles war modern. Es hieß sogar, in den beiden Etagen mit den Kammern für die Gäste gebe es je ein Zimmer mit einer großen, für ein behagliches Bad ausreichenden Wanne. Daneben Öfen für das heiße Wasser und angewärmte Handtücher.
    Molly saß auf einem Stuhl mit hübsch geschwungenen weißgestrichenen Beinen, der Bezug von blassem Rot. Sie hatte kaum gewagt, sich anzulehnen, allerdings nur während der ersten halben Stunde, dann war sie zu müde geworden, um ständig kerzengerade zu sitzen. Als auch auf zweimaliges Erinnern, sie warte und sei doch bestellt, noch nichts geschah, hatte sie sich zurückgelehnt und die Zeit genutzt, sich alles genau anzusehen und einzuprägen. Man wusste nie, wozu man es brauchte, auch in der Konditorei plante sie viele Neuerungen.
    Endlich erschien Monsieur Rivière, entschuldigte sich tausendmal, man habe ihn gerade erst benachrichtigt, wenn Mademoiselle so freundlich sein wolle? Dort drüben, der Wirt zeigte zu einem von drei Lehnstühlen flankierten runden Tisch aus makellos poliertem hellem Wurzelholz, habe man Ruhe.
    Der Besitzer des Gasthofs war ein schlanker Mann mittleren Alters mit grauen Augen, sein Haar lockig und sehr dunkel, schwarz und weiß auch seine Kleidung, gut geschnitten und elegant bis zu den schmalen Schuhen.

Weitere Kostenlose Bücher