Die Nacht des Schierlings
macht mich traurig. Um ehrlich zu sein, wohl vor allem, weil mich nun alles wieder an den Tod meines Vaters erinnert. Ich vermisse ihn immer noch furchtbar. Von ihm habe ich alles gelernt, was ich kann, und er hatte immer so viel Geduld mit mir. Selbst wenn er mal richtig streng war», ein Lächeln glitt über ihr Gesicht, «hatte ich nie das Gefühl, er ist ungerecht. Tatsächlich hat er mich verwöhnt, ohne meine Mutter wäre ich jetzt sicher eine eingebildete Gans. Versteht das bitte nicht falsch, meine Mutter ist mir überaus lieb, sie hat nur immer sehr genau darauf geachtet, dass meine Füße hübsch auf dem Boden bleiben.»
«Was Ihr sicher nicht immer als angenehm empfunden habt, oder?»
«O nein, gewiss nicht. Heute weiß ich aber, wie richtig es war, wie gut für mich. Und nun? Bruno Hofmanns Gegenwart hat mir nicht gefallen, wenn es mir auch leidtut, das sagen zu müssen, schließlich hat meine Mutter ihn als Ehemann und unseren neuen Meister ausgesucht, ich sollte Respekt haben. Einerlei, jetzt ist es zu spät. Ich wünschte trotzdem, ich wäre – ja, ich wünschte, ich wäre meiner Mutter eine bessere Hilfe gewesen, ich habe ja bemerkt, dass es in der letzten Zeit nicht immer leicht für sie war.»
«Zumindest in einem gleicht Ihr offenbar Eurer Mutter, nämlich, indem Ihr ziemlich streng mit Euch seid.»
«Findet Ihr? Immerhin kann ich ihr jetzt eine gute Hilfe sein, auch wieder nah. Obwohl es Stunden gibt, ganze Tage sogar, da scheint sie nichts zu sehen und zu hören. Dann ist sie ganz in ihrem Kummer erstarrt.» Sie beugte den Kopf und sah auf ihre fest im Schoß verschränkten Hände. «Trotzdem geht jetzt alles besser, und wenn Mutter nicht mehr so trauert – ach, es ist verwirrend. Ich sollte mich schämen, aber ich glaube, ich bin wirklich nur traurig, weil meine Mutter leidet. Ich bin so froh, dass er nicht mehr da ist, so froh … Vielleicht bin ich tief in meiner Seele ein gemeiner Mensch.»
«Jetzt bringt Ihr mich zum Lachen», erklärte Rosina entschieden. «Bruno Hofmann hat Euch das Leben schwergemacht. Punktum. Ihr könnt natürlich Euch selbst und den Neugierigen etwas vormachen, indem Ihr falsche Tränen vergießt, ich glaube nur, Ihr wollt das gar nicht. Ich habe eine Idee, Molly. Nachher gehe ich auf den Hamburger Berg, um zwei alte Freundinnen zu besuchen und einen Korb mit getrockneten Samen und Wurzeln für die Apotheke abzuholen. Die beiden haben dort einen großen Garten, Matti ist Hebamme und weiß mehr über heilende Kuren als die meisten Ärzte. Warum begleitet Ihr mich nicht? Gegen hartnäckige graue Wolken und verwirrte Gedanken und Gefühle hilft ein Spaziergang über den Hamburger Berg ganz wunderbar. Und meistens weiß Matti auch einen hilfreichen Tee für jedwede Unpässlichkeit.»
A potheker Leubold war froh, dass die Liste, die er in der Hand hielt, nicht zu denen gehörte, die er Madam Vinstedt gebeten hatte, ins Reine zu schreiben. Sie hatte wache, um nicht zu sagen wachsame Augen, offenbar einen hellen Verstand und eine für eine Frau erstaunliche Bildung. Auch kannte sie sich zumindest ein bisschen mit Kräutern und Heilmitteln aus, das nahm er jedenfalls von einer Frau an, die Madam Matti ihm zur Unterstützung schickte. Nach der Liste hatte er gegriffen, als Friedrich zur Feuerstelle unter dem größeren Destilliergerät hastete, weil es von dort allzu sehr blubberte. Leubold hoffte, es handelte sich um das Augentrostdestillat, auf das er dringend wartete. Aber diese Liste – sie war nicht so schlimm, wie er befürchtet hatte, trotzdem vermittelte sie ihm ein mulmiges Gefühl. Mommes Tod war über die menschliche Tragödie hinaus ein furchtbarer Schlag. Es war keine Empfehlung für eine Apotheke, wenn der Geselle an Gift starb. Noch weigerte Leubold sich, darüber nachzudenken, noch gelang es ihm, das Unvermeidliche zu ignorieren, doch sein mit so viel Zuversicht begonnenes Unternehmen war nun endgültig ein Fehlschlag.
Andererseits – es gab immer ein Andererseits! –, vielleicht rettete ihn Friedrichs Theriak. Das legendäre Mittel gegen alle Gifte und die meisten Krankheiten von der Pest bis zur Melancholie galt den meisten aufgeklärt Denkenden als wirkungslose oder gar schädliche Quacksalberei, gleichwohl war es in nahezu jeder Apotheke zu haben, die Variationen der Rezepte waren ohne Zahl. Schon die altrömischen Kaiser Nero und Mark Aurel hatten täglich von einem besonderen, mit einer Prise Vipernfleisch versetzten Theriak gegessen, um
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