Die Nacht des Schierlings
Ihr Gesicht war bleich, ihre Augen tief umschattet.
«Mutter.» Molly zog besorgt einen Hocker heran und setzte sich zu ihr. «Bist du krank, Mutter? Geht es dir schlecht? Soll ich den Physikus rufen? Oder Monsieur Leubold, er weiß ganz sicher …»
Magda Hofmann hob ihre Hand, langsam, als hänge ein Gewicht daran, strich zart über Mollys Gesicht und bewegte verneinend den Kopf. «Geh nur wieder, Liebes, ich werde», sie holte tief und schwer Atem, «ich werde schlafen, ein wenig, ganz tief. Danach ist alles gut.»
Rosina erschrak; sie glaubte etwas zu erkennen, was Molly nicht sah. So blieb sie an der Tür stehen, ganz still, Magda Hofmann hatte sie nicht bemerkt.
«Ich wollte dir alles aufschreiben», fuhr Magda Hofmann fort, «diese lange alte Geschichte. Aber ich konnte es nicht.» Sie lächelte und flüsterte: «Du bist so klug und so schön, wir haben alles gut gemacht. Aber nun – nein, lass mich ausreden, Kind, ich habe heute nicht mehr viel Kraft. Madam Matti kennt die Geschichte, die Hebamme auf dem Hamburger Berg. Wenn du zu ihr gehst, morgen vielleicht oder übermorgen, frag sie nach Antonia. Versprich mir, dass du das tun wirst. Nach Antonia.»
«Aber das will ich doch sagen, Mutter, ich war gerade dort, und Madam Matti hat mir von Antonia erzählt, weil sie dachte, ich wisse davon. Stimmt es, Mutter? Ist es wahr? Ich muss dich so viel fragen. Und dir erzählen. Es gibt jemand, der mich sucht … – Mutter?»
Magda Hofmann blickte ihre Tochter an, das einzige Kind, das sie aufgezogen und immer geliebt hatte, und versuchte den Blick festzuhalten. In ihrem kalten Leib brannte ein Feuer, und sie war so müde, schrecklich müde. Ihre linke Hand schob sich unter ihrem Wolltuch hervor. «Ich habe es zurückgeholt», sagte sie, «aus Momme Driftings Truhe. Nach Brunos Tod hat er alles verstanden, er wollte deine Hand und dein Erbe, Haus, Besitz und Gewerbe. Ein dummer Erpresser. Dumm genug, er hat das ganze Konfekt gegessen, es war so furchtbar scharf, aber der Erste Bürgermeister und der Stadtphysikus, habe ich ihm gesagt, die essen es so, es stärkt die Männlichkeit. Ingwer, Spanischer Pfeffer und ein geheimes Gewürz. Ist Apotheker und merkt nichts vom Schierling. Als ich heimlich zu ihm ging, hatte ich ein Fläschchen Schokolade mitgebracht, mit Schierlingssaft und zerstoßenem Samen verrührt, und mit starkem Laudanum für den Schlaf – keiner durfte hören, wenn er wütet und sich quält. Das ganze giftige Konfekt hat er aufgegessen, der gierige Mensch, ließ kein Restchen übrig. Nein, Molly, höre jetzt einfach zu. Bruno hat dein Hemdchen gestohlen, und aus meinem Geheimfach im Schreibschrank auch den Bogen mit Namen und Heimatort von Antonias Familie, den Umständen deiner Geburt. Die einzigen Beweise. Schwache Beweise, aber genug, dein gutes Leben schmutzig zu machen. Es ist nicht schmutzig, Molly, glaube das nie. Es ist gut – Antonia war gut.»
Molly starrte auf das zerknitterte dünne Kinderhemd in Magda Hofmanns Schoß, dann blickte sie sich Hilfe suchend nach Rosina um und sah in ein erschrecktes, ratloses Gesicht.
«Mutter, was hast du nur getan?» Mollys Augen brannten, und ihre Hand zitterte, als ihre Fingerspitzen das Hemdchen berührten wie etwas Fremdes und Drohendes. «Das kann doch nicht sein. Wieso Momme? Ich verstehe das alles nicht!»
«Gleich, Molly.» Magda Hofmann hob mühsam ihre Hand und berührte flüchtig Mollys Lippen. «Hör jetzt nur zu. Bruno hat uns betrogen. Ich war blind … und dumm. Er kannte deine Geschichte, Antonias und unsere Geschichte, ich hab sie ihm erzählt … Beweis meines Vertrauens. Das hab ich getan.»
Sie hatte gehofft, das werde ihn wieder fester an sie binden, aber nach Mollys Rückkehr von den Herrmanns hatte er gefordert, auch ihren Anteil am Runge’schen Erbe auf ihn zu überschreiben. Er wollte seine wachsame Stieftochter aus dem Haus haben. Das war der letzte Tropfen, der Liebe und Leidenschaft in verzweifelten Hass wandelte.
«Und dann», Magda hob ihre Hand und hielt das winzige Kinderhemd, «er hat es gestohlen, als Beweis, und es Momme Drifting zum Aufbewahren gegeben. Er wusste ja alles. Antonia war nicht mit Merg verheiratet, verstehst du?»
Die Runges hatten keine Kinder, Magda wusste von der sterbenden Antonia, dass Molly ein nichteheliches Kind war. Als Merg plötzlich verschwand und Antonia sterbenskrank wurde, fasste Magda Runge einen Plan.
«Antonia war unsere Nachbarin, Molly; als sie starb, haben wir dich
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