Die Nacht des Schierlings
Jahren mit einer Schiffsladung rückfälliger Huren als leibeigener Arbeiter in die amerikanischen Kolonien deportiert, es gebe da Anfragen aus London für solchen Handel.
So wurde hin und her geredet, als der Wagen die Stadt verließ, aber es folgte den beiden auf dem Bock auch mancher sehnsüchtige Blick. Vor ihnen lag nun die weite Welt, voller Gefahren und Unwägbarkeiten, besonders auf der langen Reise über den Ozean zu dem Hafen Baltimore, aber auch ein großes Abenteuer, ein neuer Anfang mit einer neuen Freiheit. Ein Leben ohne Mauern. Natürlich war ungewiss, ob es das überhaupt gab, die Vorstellung jedoch war wunderbar.
Am Abend desselben Tages herrschte in dem als Garderobe fungierenden Hinterzimmer des Kleinen Komödienhauses im Dragonerstall das blanke Chaos. Man konnte es auch schlicht Premierenfieber nennen. Gesine stichelte ständig an den letzten überflüssigen Änderungen der Kostüme herum, zumeist direkt am Leib der Trägerin oder des Trägers, Helena suchte verzweifelt nach ihrem dunklen Rouge, das sich schließlich in ihrem Juchtenpompadour fand, wo sie es vor Florinde in Sicherheit gebracht hatte. Überhaupt Florinde – alle waren längst da, sogar die beiden neu Engagierten, ein noch junges, aber recht talentiertes und ansehnliches Geschwisterpaar aus Lüneburg, nur Florinde ließ wieder mal auf sich warten.
Auch Fritz, der zuletzt gekommen war, wusste nicht, ob sie noch bei der Krögerin oder schon unterwegs ins Theater sei. Es war höchste Zeit. Fritz, längst im Kostüm eines florentinischen Liebhabers, hockte in einer Ecke und spielte leise, aber hektisch auf seiner Flöte, bis Jean, schon mit gepuderter Perücke, in weinrote Seide gewandet und ein bisschen zu kräftig geschminkt, sie ihm kurz entschlossen entwand. Es sei in diesem Hühnerstall unruhig genug, brüllte er, Fritz solle lieber beten, das helfe mehr. Worauf Rudolf einmal tief Luft holte, um seinen musizierenden Sohn zu verteidigen, sich dann aber lieber um die letzten Verrichtungen an seiner neuen Theatermaschinerie kümmerte, nämlich noch einmal die zu Zögerlichkeit neigende Wellenmechanik prüfte, die Donnermaschine und auch die Kerzenhalter in den Kulissen. Er war eben ein vernünftiger und sanfter Mensch, es lag auch so genug Dampf in der Luft, und Fritz war längst alt genug, für sich selbst zu sprechen.
Titus hockte ruhig in seiner Ecke, ließ das Treiben über sich ergehen und verhielt sich seiner Philosophie gemäß, nach der alles komme, wie es eben komme. Nur seine mehr als sonst gerötete Nase verriet, dass selbst er ein wenig von diesem Fieber angesteckt war.
Auch Rosina war da. Sie hatte sich auf einen Hocker neben Titus gesetzt, weil er eine solche Ruhe ausstrahlte, und sortierte immer wieder von Neuem die Textblätter. Obwohl sie nur in den Kulissen stehen würde, um im Notfall wie bei den Proben zu soufflieren, vibrierte auch sie vor Nervosität.
Vom Theatersaal klangen nun schräge Töne herein, die Musiker stimmten ein letztes Mal ihre Instrumente, eine Kniegeige, zwei Violinen, eine Flöte und eine Gambe. Wenn Fritz seine beiden Auftritte absolviert hatte, würde er sie mit seiner Querflöte verstärken, nach der Pause hatte er nur noch einen, dafür längeren Auftritt. Dann sang er mit Florinde ein freches, zugleich lustiges Lied, dazu ein schneller Tanz, im Hintergrund begleitet von Titus, der mit einer tollpatschigen Pantomime und Grimassenschneiderei mal wieder den Tölpel gab. Ihm war es recht, die Leute mochten nun mal den Gegensatz zwischen einem dummen alten Bären und einem hübschen jungen Paar.
Rosina sah sich nach Magnus um, Titus folgte ihrem Blick und brummte: «Kein Sorge, er ist gleich wieder da, er ist losgerannt, um unser Fräulein Tausendschön von Eiszapf einzusammeln. Wenn Florinde nicht beim nächsten Glockenschlag hier ist, müssen wir später anfangen – gar kein gutes Omen. Mal sehen», er stand auf, schob das Stück Stoff von dem winzigen Fenster, das einen Blick in den Saal erlaubte. «Da ist noch ziemlich viel Platz», brummte er, «der Saal füllt sich jetzt. Wird schon werden.»
Das Gedränge vor dem Dragonerstalltheater hielt sich in Grenzen. Letztlich lag das aber nur daran, weil um den Dragonerstall herum so viel Platz war, jedenfalls genug, um die Kutschen aufzunehmen, die sich an diesem Abend auf den Weg hierher gemacht hatten. Zugegeben, auch die Zahl der Kutschen war nicht exorbitant zu nennen, was aber wiederum nur daran lag, dass so viele Besucher an
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