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Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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als unser Kind aufgenommen. Wie ich es ihr versprochen hatte, nur so konntest du doch ein gutes Leben haben. Madam Matti hat uns geholfen und geschwiegen. Aber wir haben dich deiner Familie vorenthalten, das darf man nicht.»
    Sie und Runge hatten endlich doch noch einen Brief an Antonias Vater geschrieben, doch es kam keine Antwort.
    «Du warst ganz und gar unser Kind, so sollte es für immer bleiben. Aber es kam uns vor, als hätten wir dich gestohlen.»
    «Aber nein, Mutter», Molly schluchzte auf, «Mutter, gräm dich doch nicht so schrecklich. Es war gut so, du und Vater habt mein Leben gerettet, niemand anders war da. Madam Matti sagt, sonst wäre ich ins Waisenhaus gekommen, sonst …»
    «Nein, nur eheliche Kinder. Als Findelkind auf der Schwelle – das konnten wir nicht. Du warst so winzig», flüsterte sie, «so kostbar. Der Pastor liebte seinen Apfelbrand, vielleicht hat er gar nicht gemerkt, dass unser Täufling im Steckkissen älter als fünf Tage war. Es war leicht, Molly. Wir sind von Eimsbüttel auf den Hamburger Berg gezogen, dann hierher, für alle warst du unser Kind, meine Tochter, das warst du auch, von Anfang an.» Sie drehte den Kopf zur Tür und blickte über Mollys Schulter. «Ist da jemand?», fragte sie, ihre matte Stimme klang alarmiert. «Wer ist da?»
    «Madam Rosina, Mutter, eine Freundin von Matti. Sie kennt meine Geschichte, du kannst ihr genauso vertrauen wie der Hebamme.»
    «Nein», flüsterte Magda, ihr Blick war plötzlich voller Angst. «Nein, dann war alles umsonst.»
    Rosina trat rasch näher, nun war nicht der Moment für diskrete Zurückhaltung. «Seid ganz beruhigt, Madam», ihre Stimme zitterte, es gelang ihr nur mit Mühe, klar und tröstlich zu klingen, «niemand wird jemals von mir ein Wort über Euch und Eure Tochter erfahren, über die Geschichte ihrer Geburt. Ihr braucht jetzt Hilfe. Wasser, ein Brechmittel …»
    «Nein. Kein Brechmittel. Nichts mehr.» Als wäre Rosina, diese ungebetene Zeugin ihrer Beichte, nicht mehr da, wandte Magda Hofmann sich wieder Molly zu und umfasste deren Hände, ihre Finger waren nun kalt und ohne Kraft, doch sie hielt fest.
    «Bruno war ein böser Mensch», flüsterte sie heftig, «ein Teufel, wollte alles bekannt machen. Eine Gefahr für dich, Molly, kein ehrbarer Meister kann ein nichteheliches Mädchen heiraten. Er wollte dir alles nehmen, deine Freude, dein gutes, sicheres Leben, dein Erbe, den Respekt. Selbst die Zukunft deiner Kinder. Das konnte ich nicht zulassen. Es passierte einfach, ist das nicht seltsam? Beim Gewürzkrämer sprachen sie vom Schierling, wächst überall und ist so gefährlich. Es ging wie von selbst, so als würde nicht ich … Aber ich war es. Ich bin voller Schuld, mein Kind, voller Schuld. Aber jetzt – ich kann nicht zulassen, dass ein anderer gehenkt wird, ohne Schuld. Ich habe es getan, Molly, und ich kann nicht den Weg gehen, der mich dafür erwartet. Du musst nun alleine weitergehen, das ist meine größte Schuld. Ich war nicht klug genug, Molly, ich dachte, mit dem Schierling bleibt es unentdeckt und du, und du …» Ihre Stimme versickerte zu einem tonlosen Flüstern, ihr Atem ging flach. «Ich habe es getan, ich allein, erst Bruno, dann Drifting. Du musst zum Weddemeister gehen, ich habe es aufgeschrieben, nein, nicht von deiner Geburt, das darf niemand wissen, du musst dich schützen. Nur die Schierlingsnächte hab ich gestanden. Die beiden Schierlingsnächte … Der Junge im Kerker – ist unschuldig. Nur ich – ich bin schuldig.»
    Da wurde die nur angelehnte Tür aufgestoßen, Ludwig stürzte herein. «Nein, Magda, nein. Nicht du!» Er fiel vor ihr auf die Knie, griff nach ihren Armen und hielt sie fest umklammert, Tränen rannen sein Kinn herab. «Nein, Magda, doch nicht du. Ich habe das Schwein in den Schlick gedrückt, er war so betrunken, und wer weiß, von welcher Hure er wieder kam. Da war die Stange von der Winde, ich hab einfach so lange gedrückt, bis er still war. Du darfst nicht gehen. Was soll ich tun ohne dich? Bleib hier, Magda. Bleib hier. Hör doch zu …»
    Schluchzend barg er den Kopf in ihrem Schoß, als er endlich begriff. Sie hörte ihn nicht mehr. Ihr Herz hatte aufgehört zu schlagen.

EPILOG
    A n einem Freitag im November rollte ein hochbeladener zweispänniger Wagen aus dem Steintor, um nie mehr zurückzukehren. Die Zügel führte Gerrit Leubold, ehemals Michaels-Apotheker beim Opernhof, nah neben ihm auf dem Bock saß blass und kerzengerade Molly Runge. Hinten

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