Die Nacht des Schierlings
noch von Belang. Sie war auch nicht gut im Entscheiden, so viele falsche Entscheidungen hatte sie getroffen. Die letzte immerhin war richtig, darin war sie sicher. Mit einem Mal fühlte sie sich leicht. Früher hatte sie nie gedacht, dass man das entscheiden könnte. Entscheiden dürfe. Inzwischen wusste sie, welche Freiheit das Überschreiten einer bis dahin als unantastbar erachteten Grenze geben konnte. Es war eine grausame Freiheit.
Als sie vorhin in ihre Kammer hinaufgekommen war, war sie ihrem Gesicht im Spiegel über der Kommode begegnet. Ein fremdes Gesicht, das war gut. In ein vertrautes wollte sie nicht blicken. «Sieh dich an», hatte sie gesagt, laut, damit sie es selbst hörte. Eine alberne Anwandlung, aber wie leicht es war, wenn albern oder ernsthaft nicht zählte. Und die vergangene, die letzte Nacht, diese Stunden voller Qual, zwischen Entsetzen und Frieden, das Ringen um das Richtige, mit der Gewissheit, was getan werden musste. Nein, Letzteres nicht, sie wusste es längst. Hätte sie anders gehandelt, wenn sie gewusst hätte, wohin es führte? Sicher hätte sie das. Doch nun – war es, wie es war.
Sie ließ den Blick weit hinaus in den Himmel wandern, eine milde, schon müde Sonne schickte letzte Wärme durch das geöffnete Fenster. Sie nahm den Becher vom Fensterbrett und leerte ihn, die Schokolade trog kaum. Sie bewältigte die erste Übelkeit, nahm einen Schluck Wasser und zog den weißen Steingutteller heran. Sie hatte wieder gute Arbeit geleistet, das Konfekt sah köstlich aus.
«B egleitet Ihr mich?» Molly klang ein wenig atemlos, als sie in den Rödingsmarkt einbogen und das Haus ihrer Familie schon in Sicht kam. Auf dem Rückweg von Mattis Haus war sie immer schneller gegangen, Rosina hatte sich dem schweigend angepasst. Mollys Fragen mussten brennend sein und erlaubten keinen Aufschub. Ihr ganzes Leben, alles, was bisher selbstverständlich gewesen war, sah plötzlich anders aus. Auch wenn es ihr Leben nun kaum mehr beeinflussen konnte. «Bitte», drängte sie, «Ihr müsst mitkommen.»
«Ich denke, es geht nur Euch und Eure Mutter an», entgegnete Rosina zögerlich, «ich meine Madam Hofmann, ach, bleiben wir dabei, Eure Mutter. Eine fremde Person stört da nur. Bedenkt doch, wie schwer das alles für sie sein muss. Erst Meister Hofmanns Tod, nun holt sie und Euch auch noch so vehement die Vergangenheit ein – das bedeutet mehr als ein schweres Gewitter.»
«Ja, vielleicht. Bestimmt sogar. Aber Ihr müsst doch die Geschichte mit meinem Cousin erklären, ich habe die Hälfte schon wieder vergessen, dieser Familie in – wo war es? Bei Pirna, ja. Es würde mir helfen. Ich bitte Euch, begleitet mich.»
Rosina lächelte. «Wenn es Euch wirklich hilft, begleite ich Euch natürlich. Falls Eurer Mutter meine Gegenwart nicht recht ist, gehe ich aber gleich.»
Obwohl sie zögerte, kam Rosina Mollys Bitte gerade recht. Sie war gespannt wie ein Flitzebogen, was ein pietätloser Gedanke war, schließlich ging es um ein großes Lebensdrama. Aber um eines, das gut ausgegangen war. Da durfte man neugierig sein. Ein Unbehagen blieb dennoch zurück, über Mollys Geschichte konnte sie nicht vergessen, dass zwei Männer tot waren und ein Unschuldiger im Kerker saß. Und Mattis Frage war ihr noch im Ohr: «Denkst du, Hofmanns Tod hat mit alldem zu tun?»
Also folgte sie Molly bereitwillig. Im Laden verkaufte Klärchen zwei Damen süße Brötchen und pries das neue, besonders gewürzte Konfekt an. Sie nickte Molly und Rosina nur flüchtig zu. In der Küche rumorte Elwa, in der Backstube arbeiteten Ludwig und Sven, Marius schichtete unter dem Vordach im Hof neu gelieferten Torf auf.
Es wurde wenig und nur gedämpft geredet, noch herrschte die bleierne Stille des Trauerhauses.
«Mutter?» Selbst Mollys Ruf klang leise. «Wo ist sie?», fragte sie Ludwig, der in Branntwein eingelegte Kirschen aus einem Steinguttopf schöpfte und auf einem reinen Tuch ausbreitete.
«Oben, in ihrer Schlafkammer.» Er sah nur kurz von seiner Arbeit auf, Molly traf ein vertraulicher Blick, Rosina ignorierte er. «Die Meisterin hat heut’ keinen guten Tag, sie hat sich zur Stärkung sogar eine Schokolade gekocht, macht sie sonst nie, und alles selbst penibel wieder reingemacht. Sie will jetzt ein bisschen ausruhen, du störst sie besser nicht, Molly.»
«Ich muss sie stören, Ludwig, es geht nicht anders.»
Magda Hofmann saß noch in ihrem Sessel, das Wolltuch um Beine und Leib, ein zweites um ihre Schultern.
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