Die Nacht des Schierlings
St. Katharinen heran, und er dankte Gott, dass nicht er dort unten gelegen hatte. Sechs Uhr – höchste Zeit für die letzte Runde, die Leute warteten auf seinen Ruf. Wenn er dann auf der Wache die Vorkommnisse dieser Nacht in das große Buch geschrieben hatte, konnte er endlich nach Hause gehen. Er war sehr müde.
D ie Bluse erst notdürftig geknöpft, die Röcke mit der Linken gerafft, die Pantinen in der Rechten, sauste Molly Runge die Treppe hinunter. Sie verdankte einzig der jahrelangen Übung, dass sie nicht kopfüber hinunterstürzte. Es war schon taghell, als sie erwacht war, also hatte sie gründlich die Zeit verschlafen, was nicht mehr geschehen war, seit sie eine halbe Nacht lang geholfen hatte, das schwere Fieber des jüngeren Lehrlings mit kalten Umschlägen und dem Einflößen eines übelriechenden Tees zu bekämpfen. Weiter sauste sie durch die Diele und in die Küche.
«Verzeih, Mutter», rief sie atemlos, «ich bin viel zu spät, dabei ist heute besonders viel zu tun. Und so Wichtiges. Ich weiß nicht …»
«… warum ich so lange und so tief geschlafen habe», wollte sie fortfahren, aber hier stimmte etwas nicht. Ihre Mutter saß noch am Küchentisch, schon das war ungewöhnlich, umso mehr, als ihre Hände müßig auf dem Tisch ruhten. Elwa lehnte mit verschränkten Armen und noch grimmigerem Blick als sonst neben dem Herd an der Wand, und – das war besonders befremdlich – es war still. Wohl drangen von draußen die in dieser Stunde vertrauten Geräusche herein, ratternde Wagenräder, das Quietschen einer Winde, Stimmen, Hundegebell, sogar Ruderschläge vom Fleet, Ausrufer für Aale, Torf oder Zitronen, ein Zugpferd wieherte aufgebracht, eine Peitsche knallte. Nur aus der Backstube war nichts zu hören.
«Mutter?» Molly setzte sich Magda Hofmann gegenüber und umschloss deren Hände mit ihren. Sie waren eiskalt. «Was ist passiert? Elwa», drängte sie, und als sie ohne Antwort blieb, «sag schon: Warum ist es so still? Ist niemand in der Backstube?» Die Küche verschwamm vor ihren Augen, alles erinnerte plötzlich an den Morgen nach dem Tod ihres Vaters. Aber ihre Mutter war hier, ganz und gar lebendig. Das war das Wichtigste. «Was, Elwa? Ein Unglück?»
«Glaub ich nicht.» Elwa löste sich von der Wand, nahm einen halben Laib Brot aus der Tonkruke und legte ihn mit einem Messer vor Molly auf den Tisch. «Kommt drauf an, was man für ’n echtes Unglück hält», murmelte sie, um nach einem fragenden Blick auf ihre Dienstherrin laut fortzufahren: «Der Meister ist nicht nach Hause gekommen. Ich denk, der schläft nur irgendwo seinen Rausch aus, ist ja noch spät weg, gestern.»
Molly hatte am vergangenen Abend in ihrer Schlafkammer einen kurzen Wortwechsel gehört, ohne Worte zu verstehen. Dann war sie gleich eingeschlafen, Schritte, womöglich eine schlagende Tür hatte sie nicht mehr gehört. Sie wusste, was Elwa tatsächlich meinte, nämlich dass Bruno Hofmann seinen Rausch – wenn er überhaupt einen hatte – in einem fremden, kaum ehrbar zu nennenden Bett ausschlief. Das war noch nie vorgekommen. Bruno Hofmann ging seit einiger Zeit das, was man «eigene Wege» nennt, so wie es viele Männer tun, aber er hatte stets die Form gewahrt, er war manchmal spät, doch immer vor Mitternacht heimgekommen. Auch hatte Molly ihn nie poltern gehört, was bedeutete, dass er nie sehr betrunken gewesen war.
Sie blickte ihre Mutter mehr mitfühlend als besorgt an. Magda Hofmanns Augen waren gerötet und geschwollen, stärker als an jenen Tagen, wenn nur der tückische Oktoberwind schuld sein sollte. Auch ihr Gesicht war bleicher, die Ringe unter den Augen tief und dunkel. Sie sah aus, wie eine Frau in reifen Jahren aussieht, nachdem sie die ganze Nacht nicht geschlafen, sondern sich in Kummer und Sorge herumgewälzt hatte.
Molly nickte dankbar, als Elwa ihr einen Becher Kaffee zuschob. Dann sah sie erschreckt auf – Kaffee am Morgen, also musste es doch schlimm stehen.
«Ich dachte, ich koch der Meisterin was Stärkendes», erklärte Elwa, «kann dir auch nicht schaden.»
Der Kaffee war bitter und ungewürzt. Molly trank ihn sonst nie ohne Zucker, heute war er ihr so gerade recht.
«Erzähl», sagte sie und nahm wieder Magda Hofmanns Hände. «Was ist passiert? Und wo könnte er sein? Ich sehe doch, wie sehr du dich sorgst. Und wo sind Ludwig und Sven? Warum arbeiten sie nicht? Heute Nachmittag muss das Konfekt für den Kaiserhof fertig sein. Unzuverlässigkeit können wir uns
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