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Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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Altona gewesen war und sich Mutos angenommen hatte. Wenn man es herausfände, so dachte sie wie schon oft, wenn er darüber sprechen könnte, vielleicht könnte er es dann vergessen. Oder verzeihen, wem auch immer, vielleicht sich selbst. Sie wusste gut, welche Erlösung Vergebung bedeutete, selbst zu vergeben ebenso, wie Vergebung eigener Schuld zu erfahren.
    Vielleicht war es ein Fehler gewesen, ihn früher einfach so zu lassen, wie er war. Hätte sie ihn doch mehr drängen müssen, seine Sprache wiederzufinden? Aber er war ein so frohes Kind gewesen und hatte sich auf seine eigene Art gut zu verständigen gewusst. Oder hatte sie das nur geglaubt, weil sie die Mühe scheute? Die Konflikte? Denn immer flackerte Panik in seinen Augen auf, wenn jemand versuchte, ihn zum Sprechen zu bringen, Dr.   Struensee ebenso wie der großartige Eppendorfer Kantor Heinicke, der sogar taube Kinder das Sprechen lehrte.
    Fritz’ Flötenspiel war immer schneller geworden, mutwilliger, Helena und Jean gaben atemlos auf, gesellten sich mit lachenden Gesichtern zu Titus und sahen den anderen zu. Auch Florinde lachte, laut und froh, ihr Körper wand sich leicht und biegsam wie eine junge Weidengerte um ihren Tänzer. Um Magnus. Mutos Lippen wurden blass und schmal.

KAPITEL 4
    E s hieß, wenn alle irdische Last vergangen und vergessen und die Seele zum Himmel aufgestiegen war, werde das menschliche Antlitz zum Bild reinen Friedens und Gleichmuts. Auf diesem Tisch, an diesem schönen Herbsttag, zeigte sich wieder einmal, dass solcherlei Spruchweisheiten blanker Selbstbetrug jener Menschen waren, die nicht ertrugen, dass auch der Tod ein Teil des irdischen Jammertals war. Und zwar eines der unangenehmsten. Das jedenfalls war die Meinung Dr.   Brönners. Alles andere war ihm frömmelndes Kaffeekränzchen-Geschwätz. Als Stadtphysikus hatte er genug Elend, Blut und faulende Körper gesehen, um sich auch darin als Experte zu fühlen.
    Immerhin war die Leiche auf dem Tisch des Anatomischen Theaters im Eimbeck’schen Haus frisch und als die eines Mannes im besten Alter auch sonst gut erhalten. Der Tod war ohne dieses oft vorausgehende Siechtum eingetreten, das einen Körper schon zu zersetzen beginnt, wenn noch Leben und Seele darin wohnen, was die Totenschau äußerst unangenehm machen konnte. Besonders für empfindsame Nasen. Nein, dieser Leichnam war alles in allem recht angenehm, aber von Gleichmut konnte bei diesem Gesicht trotzdem keine Rede sein.
    Bis gestern war dieser Leib überaus lebendig gewesen, er hatte Bruno Hofmann gehört, einem lebenslustigen Mann, so war Dr.   Brönner berichtet worden, und Opfer seiner eigenen Tölpelei. Was immer er als Letztes gesehen hatte, musste ihn entsetzt haben. Oder was er zuletzt gedacht und gefühlt hatte, denn nach dem Bericht des Nachtwächters, der den Toten gefunden hatte, hatte der Mann mit dem Gesicht im stinkigen Morast des Fleets gelegen und war erstickt. Zu betrunken, um klar zu denken und sich aufzurappeln.
    Nichts gegen einen tüchtigen Schluck Branntwein, der war für den Mann, der damit umzugehen verstand, hilfreiche Medizin zur Beförderung der Verdauung und der Klärung der Gedanken. Ein, zwei Gläschen am Morgen … Kerle wie dieser waren nur zu blöde, guten Trank von billigem Fusel zu unterscheiden und das richtige Maß zu finden. Diesem hier hatte es auch ein paar Kratzer eingetragen, wahrscheinlich hatte er die aber schon ein oder zwei Tage länger, sie muteten nicht frisch an.
    «So sieht einer eben aus, wenn er sturzbetrunken das Brückengeländer mit dem Gartentor verwechselt und im Fleet landet», belehrte der Stadtphysikus deshalb seinen Besucher. «Zu besoffen zum Aufrappeln und ruck, zuck erstickt. Da muss man nicht gleich Mord und Totschlag argwöhnen, Weddemeister.» Er schob seinen Zeigefinger unter die Perücke, ignorierte den auf die Leiche rieselnden krümeligen alten Puder und kratzte sich ausgiebig über der Stirn. «Aber wenn Ihr darauf besteht: Möglich ist natürlich alles. Wieso seid Ihr überhaupt gekommen? Kanntet Ihr den Kerl? War ja wohl ein Konditor, Ihr seht ganz danach aus, als wärt Ihr einer seiner besten Kunden.» Er lachte freudlos, es klang nach der Schnarre eines Nachtwächters. «Gewesen natürlich. Gewesen.»
    Er schnaubte ungehalten. Dass er diesen Leichnam höchstpersönlich begutachten musste – der für solcherlei Verrichtungen zuständige Wundarzt lag immer noch mit einem läppischen Fieber auf der faulen Haut –, war schon genug

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