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Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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Toten geöffnet, um hineinzusehen, damit sein Bild komplett wurde.
    Als hätte Brönner seine Gedanken gelesen, erklärte er: «Glaubt bloß nicht, Ihr könnt seinen Mund öffnen. Jemand von Eurer Profession versteht nichts davon, wozu auch?, aber es ist ganz natürlich, wenn er noch in der Totenstarre liegt. Da ist jetzt nichts zu öffnen oder zu bewegen. Es sei denn, Ihr habt zu viel Kraft oder wollt den Leichnam schänden, indem Ihr Gewalt anwendet und ihm die Gelenke brecht.»
    Wagner fand es überflüssig, den Physikus darauf hinzuweisen, dass er schon etliche Jahre Weddemeister war und dieser Tote nicht der erste, den er sah. Besonders nicht der erste Ermordete. Was hier – er gestand es zu – tatsächlich nicht zu vermuten war.
    Oder doch?
    «Und was ist das?» Wagner konnte den Hauch von Triumph in seiner Stimme nicht verbergen. Er zeigte auf eine gerötete Stelle im Nacken, eine Handbreit unterhalb des zur Seite gedrehten Kopfes, ein hässlicher Kratzer oder Striemen.
    «Ordinärer Schlick. Seht Ihr das nicht?»
    Tatsächlich klebte im Ohr und seiner Muschel noch ein veritabler Rest schwarzgrauen Schlamms, so weit war die Sorgfalt der Leichenwäscherin nicht gegangen.
    «Nein.» Wagner legte den Finger nun direkt neben die Stelle, die er meinte. Die Kälte des Körpers, der Haut, berührte ihn, als begehe er ein Sakrileg. «Das hier. Das sieht nach einer Verletzung aus.»
    Ehe Dr.   Brönner es verhindern konnte, hatte Wagner die wahrhaftig noch steife Schulter der Leiche angehoben. Er nickte mit einem Schnaufer der Genugtuung. «Hier», er wies mit dem Kinn auf den Nacken des Toten, «hier ist eine Verletzung. Eine tiefe Druckstelle, seltsam, nicht geschürft», Wagner blickte auf und begriff, «da hat irgendwas gedrückt und ist über den Nacken am Hals entlang abgerutscht. Jawohl, abgerutscht.»
    Der Physikus beugte sich mit plötzlichem Interesse vor. Dann richtete er sich wieder auf, verschränkte die Arme vor der Brust und trat eine halben Schritt zurück. «Darauf wäre ich natürlich noch gekommen, Weddemeister. Wenngleich das eine leicht zu vernachlässigende Verletzung ist, an so etwas stirbt man nicht. Ich werde sie trotzdem in das Protokoll schreiben. Wie die anderen: die aufgeplatzte Lippe – da sind immer Steine und Mengen von Unrat im Schlick, die zu solchen Verletzungen führen, ja, immer. Dazu die Kratzer an der Schläfe, an den Händen und Knöcheln, auch am linken Bein, was Ihr nicht gesehen habt. Nicht alles Folgen des Sturzes, sie sehen ein, zwei Tage älter aus. Es kann aber gut sein, dass er auch vorher auf der Straße gestürzt ist. Er war betrunken. Wie ich schon sagte.»
    Kein Grund, den Weddemeister auf eine mögliche, wirklich nur mögliche Schlägerei hinzuweisen, das würde diesen übereifrigen Kläffer nur auf falsche Gedanken bringen.
    Das mit der Trunkenheit ahne er nicht nur, schnauzte er auf Wagners zweifelnd fragenden Blick, der Geselle des Konditors sei hier gewesen, auf der Suche nach seinem Meister. «Sehr peinlich, so eine Suche für ihn, für mich gut, so wusste ich gleich, wer hier auf meinem Tisch liegt. Der Kerl war jedenfalls gestern Abend in einer Schenke, und das ist ihm schlecht bekommen.» Er beugte sich über den Nacken des Toten, betrachtete die Stelle, zu der immer noch Wagners ausgestreckter Finger zeigte, und richtete sich endlich räuspernd wieder auf. «Zugestanden, Weddemeister, das könnte ein weiteres Indiz für eine Schlägerei sein. Betrunkene streiten ja gern. Ich erkenne einiges, was auf eine Schlägerei, nun, besser auf eine Rangelei hinweisen könnte. Allerdings», wieder räusperte er sich und machte ein ungemein bedeutendes Gesicht, «allerdings bin ich sicher, dass die nicht in der vergangenen Nacht stattgefunden haben kann. Auch die Schrammen an den Knöcheln – mein geschultes Auge erkennt, was Ihr natürlich nicht erkennen könnt – sind nicht frisch, mindestens einen Tag alt. Und nun, Weddemeister, erwarten mich wichtige Angelegenheiten. Wirklich wichtige.» Er seufzte, schloss einen Moment die Augen, was auf Wagner den Eindruck einer gewissen unpassenden Theatralik machte, dann sah er ihn eindringlich an. «Euer Pflichtbewusstsein ist lobenswert», erklärte der Physikus, «ich werde daran denken, es bei Gelegenheit an höherer Stelle zu erwähnen. Und wenn es Euch beliebt, wenn Euch diese – ja, diese Verletzung am Nacken des Leichnams beunruhigt haben sollte, versucht nur, herauszufinden, woher sie stammt. Womöglich – nun

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