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Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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Rosenlippen und Schwanenhals, die Schultern nichts als weiße Haut, die bunten, federleichten Röcke – Rosina fühlte sich plötzlich alt, ungelenk und über die Maßen bieder. So wie Florinde war sie auch gewesen. Vor fünf Jahren? Gestern erst? In einem anderen Leben. Und nun?
    Eine Hand legte sich auf ihre Schulter, und als sie herumfuhr, wusste sie, noch bevor sie sein Gesicht sah, wer sie so vertraut berührte.
    «Muto.» Sie wollte ihn umarmen, doch etwas in seinen Augen ließ sie nur seine Wange berühren, so wie ungezählte Male zuvor. Sie musste zu ihm aufsehen, der junge Akrobat – er mochte zwanzig Jahre alt sein, genau wusste das niemand – überragte sie um eine halbe Haupteslänge.
    Vor zehn Jahren, gleich nach dem Ende des langen Krieges, hatten sie und die Becker’schen Komödianten ihn in einer düsteren Leipziger Gasse gefunden, verletzt, halb verhungert und fiebernd. Sie hatten ihn gesund gepflegt, und als es an der Zeit war, die Stadt zu verlassen, doch ins Waisenhaus gebracht. Sie wussten nicht, wer er war, und Fahrende wurden allzu leicht verdächtigt, braven Bürgern ihre Kinder zu stehlen, um sie als Arbeitssklaven zu missbrauchen oder zu verkaufen. Aber dann, als sie die Tore schon passiert hatten, war der Junge unter einer der Planen auf dem hinteren Wagen hervorgekrochen. Er war aus dem Waisenhaus entflohen, und Jean fand, einem Kind, das nicht spreche und vielleicht nicht ganz richtig im Kopf sei, ergehe es auf dem Komödiantenkarren allemal besser als in einem solchen Kinderarbeitshaus voller Pestilenzen, Krätze und Läuse. Im Übrigen werde ein kleiner Esser mehr sie kaum verhungern lassen. Letztlich hatten alle dem Prinzipal zugestimmt, so war der Junge bei der Komödiantengesellschaft geblieben, er hatte sogar das Lachen wieder gelernt und war schnell ein guter Akrobat geworden.
    Sie hatten ihn Muto getauft, denn wenn er auch wieder gesund war, sprach er doch nicht. Damals hatten sie geglaubt, er sei eben ein stummes Kind, dass das ein Irrtum war, stellten sie erst später fest. Er konnte sprechen, aber er tat es nicht, für viele Jahre. Welches Entsetzen auch immer ihn damals in den Straßen Leipzigs hatte verstummen lassen, war ebenso sein Geheimnis geblieben wie seine Herkunft und Vergangenheit. Vielleicht stimmte es sogar, wenn er behauptete, sich daran nicht erinnern zu können.
    Sehr schnell allerdings hatte sich gezeigt, dass sonst in seinem Kopf absolut alles «richtig» war, und die Geschwindigkeit, mit der er sich eine eigene Sprache der Augen, der Gesten, des ganzen Körpers erfand, verblüffte alle. Dennoch hatte Rosina ihn von Anfang an am besten verstanden, für sie war er wie ein kleiner Bruder gewesen.
    Obwohl er längst in dem Alter war, in dem ein junger Mann seine eigenen Wege sucht, hatte er ihr womöglich am stärksten gegrollt, als sie die Gesellschaft verlassen und einen Bürger geheiratet hatte. Seit die Becker’sche Gesellschaft wieder in der Stadt war, war ihre alte Vertrautheit zurückgekehrt, die Wärme in seinem Blick. Er hatte ihr verziehen.
    Nun stand er neben ihr, so vertraut, zugleich so fremd. Wenn er lachte, sein stummes Lachen, erkannte sie in ihm immer noch den Jungen, der ein Jahrzehnt zu ihrem Leben, zu ihrem Alltag gehört hatte. Jetzt lachte er nicht. Wohl hatte sein Mund gelächelt, als er sie angesehen hatte, doch seine Augen waren dunkel geblieben. Die Rötung und leichte Schwellung an seiner linken Schläfe waren frisch, beides war gestern noch nicht da gewesen. Sie hätte ihn gerne nach der Ursache gefragt, aber sie wollte ihn nicht in Verlegenheit bringen. In der letzten Zeit, so hatte Helena erzählt, gerate er leicht in Rage, er schlage schon mal zu, was er allerdings hinterher zutiefst bereue.
    «Dabei ist es doch ganz normal, wenn junge Männer eine Prügelei anzetteln.»
    «Vielleicht schämt er sich, weil er eigentlich nicht zuschlagen, sondern streiten will», hatte Rosina geantwortet. «Es muss schwer sein, gerade dann nicht sprechen zu können. Er war doch immer ein freundliches Kind.»
    «Dann soll er endlich sprechen, verdammt. Wir wissen, er kann es, er müsste es nur wieder üben. Und wollen.»
    Dazu hatte Rosina geschwiegen. Sie verstand Helenas Zorn nicht. Aber irgendwann musste man herausfinden, was Muto damals am Ende des Krieges erlebt hatte, dass seine Seele ihm seither die Sprache verweigerte. Das jedenfalls hatte vor Jahren schon Dr.   Struensee zu bedenken gegeben, als er noch ein einfacher Stadtphysikus in

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