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Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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der Unbequemlichkeit. Dass auch noch der Weddemeister aufgetaucht war, ohne dass er nach ihm geschickt hatte, und ihn aufhielt, war doppelter Grund zum Missmut.
    Weddemeister Wagner hatte einen roten Kopf bekommen. Er zog sein großes blaues Tuch, ohne das er nie aus dem Haus ging, aus der Rocktasche und wischte sich ausgiebig Gesicht und Nacken, rieb endlich auch die Hände daran ab und stopfte es energisch, womöglich sogar ärgerlich, in die Tasche zurück. Er mochte den Stadtphysikus nicht, dessen Herablassung so wenig wie den Geruch, der verriet, dass er sich selbst ganz gut mit Trunkenheit auskannte, auch wenn er es besser zu verbergen verstand. Aber schließlich war es Aufgabe eines Weddemeisters, zu wissen, was in der Stadt vorging.
    Eigentlich nur, was an Unrechtem und Schändlichem geschah, an Mörderischem gar, wo sich die Spitzbuben und Schurken aller Art, die Huren und Schmuggler, die Totschläger verbargen, besser noch: zu fassen waren. Nebenbei erfuhr er aber auch manches, was niemand ins Zuchthaus, in die Fronerei oder an den Galgen brachte, doch möglichst diskret zu behandeln war. Was er für gewöhnlich tat. In Sachen Stadtphysikus Brönner war er nicht sicher, ob er sich noch lange daran halten konnte. Der Mann war ein Stümper, und der Wundarzt, der für ihn arbeitete, kaum weniger. Leider war er, Adam Wagner, mit dieser Erkenntnis allein. Aber vielleicht, wenn er sich anstrengte und beharrlich blieb, konnte er es doch beweisen und offenbar machen. Nur gut, dass Brönner ihn für einen Mann von beschränkten Geistesgaben hielt – wie etliche, die Wagner wenig kannten. Der Stadtphysikus hätte es besser wissen müssen, leider gehörte er zu den Menschen, die nur wahrnehmen, was sie sehen und wissen wollen und in ihr enges Bild von der Welt passte.
    Wagner hätte gerne zurückgeblafft: «Ich bin hier, weil ich Euch auf die Finger sehe, Monsieur Blindfisch von Nasehoch, akkurat auf Eure fettigen Finger.» Aber er war nicht dumm. Er sah auf den toten Bruno Hofmann hinunter, schnüffelte verstohlen, ob er etwas Befremdliches röche, schürzte die Lippen und nickte bedächtig.
    «Also betrunken. Soso. Ein Unglücksfall? Wenn Ihr es sagt. Wie käme ich dazu, Euer Urteil anzuzweifeln? Und nein, ich kannte ihn nicht. Ein wenig vielleicht, sehr flüchtig. Ich habe», er räusperte sich, griff wieder nach seinem blauen Tuch, stopfte es aber gleich ungenutzt zurück, «ich habe Nachricht bekommen, dass man heute Morgen einen Toten gefunden hat, bei Ebbe im Rödingsmarktfleet, ja, das habe ich. Eine eilige Nachricht. Da dachte ich, ich schau mal im Anatomiesaal im Eimbeck’schen Haus nach. Um Euch einen Weg zu ersparen, ja, falls Ihr etwas entdeckt, das für mich von Belang ist. Ich meine wäre. Sein könnte.»
    Er wippte hüstelnd auf die Fußspitzen seiner abgelaufenen schmutzigen Stiefel, verschränkte die Hände im Rücken und blickte den Physikus mit diesem Blick an, der schon viele zu einer völlig falschen Einschätzung des Weddemeisters und seines Spürsinns geführt hatte.
    «Sehr verbunden», nuschelte der Physikus, Misstrauen in den Augen ob so viel Entgegenkommens, «gleichwohl überflüssig. Ich habe den Leichnam untersucht, ich persönlich!, der feine Monsieur Wundarzt pflegt mal wieder seine Hypochondrie. Es gibt dem, was ich Euch schon sagte, nichts hinzuzufügen. Halbwegs weich gefallen. Aber, leider, im Schlick erstickt.»
    «Aha, der Mund ist also voller Schlick? Und der Hals … wenn Ihr erlaubt, ich würde es gerne sehen, ich kann immer von Euch lernen.»
    «Ach, Ihr wollt Wundarzt werden!? Nein? Was fragt Ihr dann so? Vertraut Ihr meinem Urteil nicht?» Flink wie ein Wiesel, aber zu spät schlug er auf Wagners Rechte, die das Tuch von dem auf dem Tisch ausgestreckten Körper zog. «Keine Ehrfurcht vor dem Tod, was?», rüffelte der Physikus weiter und missdeutete Wagners gesenkten Kopf als demütige Scham. Der ließ den Arzt reden und seinen Blick schnell und konzentriert über den nackten Oberkörper, den Hals und das Gesicht des Toten gleiten. Die Leichenwäscherin hatte gründliche Arbeit geleistet. Zweifellos weniger aus Pietät denn aus Notwendigkeit. Wer im Dreck gelegen hatte, brauchte viel Wasser, um wieder halbwegs erkennbar zu sein. Zumindest stimmte, was gemeldet worden war: Der Mann war eindeutig Bruno Hofmann, Konditormeister vom Rödingsmarkt. Seine Oberlippe war verletzt, beinahe gespalten, die Haut an der Schläfe wirkte abgeschürft. Wagner hätte gerne den Mund des

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