Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
Vom Netzwerk:
ja. Ich werde der Notiz im Protokoll eine kleine Skizze beifügen. Wie es bei Unklarheiten üblich ist. Aber zum Tod oder nur in die Nähe des Todes kann so was nicht führen. Wenn Ihr mich nun wirklich …» Er ging mit einer wedelnden Handbewegung zur Tür und öffnete sie weit.
    «Ihr werdet den Leichnam nicht aufschneiden und weiter untersuchen? Ich meine obduzieren?»
    Beide Brauen des Arztes schossen in die Höhe. «Um Gottes willen – warum? Es gibt keinen Grund, und für die armen Hinterbliebenen ist das immer eine große Bürde. Der Mann ist unter unerfreulichen Umständen gefallen und erstickt. So was kommt vor. Für den Unterricht unserer Wundärzte und Hebammen haben wir genug Material. Zwei recht brauchbare Leichen», erklärte er zufrieden, «ein dralles junges Hürchen, dahingerafft von der Lustseuche, kein schöner Anblick, dafür überaus lehrreich. Und einen Fremden aus einem Gasthof an der Spitalerstraße, leider ohne Passpapier, keiner weiß, wer er ist. Recht alt schon, aber – nun, wir werden bald mehr sehen. Wenn Ihr so begierig seid zu lernen», fuhr er mit maliziösem Lächeln fort, «könnt Ihr Euch gerne zu uns gesellen, zwischen den Wundärzten ist immer das ein oder andere Plätzchen für Publikum, das wisst Ihr ja. Unser schönes neues Theatrum anatomicum ist für jedermann zugänglich. Der selige Meister Hofmann hingegen kann nun in den Gottesacker versenkt werden. Von mir aus und wenn die Witwe es sich leisten kann, mit allem Pipapo.»
     
    Z uletzt hatte er nicht mehr auf die Glockenschläge geachtet, es konnte erst gegen Mittag sein. Kein Wunder, wenn er noch sehr müde war, ein Nachtwächter sollte zu dieser Stunde fest schlafen. Für gewöhnlich schlief Wilhelm Haber wie ein Bär im Winter, selbst wenn der Lärm der Stadt vor seinem Fenster zum Radau wurde oder im Haus so laut gestritten, dass die Scheiben klirrten. An diesem Vormittag floh ihn der Schlaf, immer wenn er gerade eingedöst war, schreckte er wieder auf. Jeder sonst kaum gespürte Klumpen in der alten Matratze wurde zum Störenfried, alte, vergessen geglaubte Sorgen krochen wieder heran oder Unwichtiges, wie die lästige stete Unruhe seiner Frau, er könne sich bei seinen nächtlichen Runden auf den Tod erkälten.
    Endlich setzte er sich auf. Es war noch zu früh, um aufzustehen, er brauchte mehr Schlaf, wenn er die nächste Nacht wach und aufmerksam durchstehen und auch immer die richtige Stunde ausrufen wollte. Aber wenn er eine Scheibe Speck aß – ein Schluck Bier musste auch noch da sein –, konnte er vielleicht wieder einschlafen.
    Zum Glück war Sina nicht da, sie würde ihn nur mit irgendwelchen übelriechenden bitteren Tees traktieren. Sonst war sie eine gute Frau, fleißig, auch gesund, sie hatte stets einträgliche und ehrbare Arbeit gefunden. Ohne ihren Lohn würden sie jetzt noch in einem dieser feuchten Keller hausen, wie die längste Zeit ihrer gemeinsamen Jahre. Diese zwei Zimmer, trocken und nicht zu dunkel, waren ihm zu Anfang wie ein Schloss erschienen. Die Kinder führten jetzt ihr eigenes Leben, auch die Jüngste war ausgezogen, hatte nach Uetersen geheiratet, den Klosterhilfsschreiber, gar keine schlechte Partie, und er hatte gefürchtet, ohne ihren Lohn würden sie die Wohnung nicht bezahlen können. Aber Sina hatte die Unterlippe vorgeschoben und mit den Schultern gezuckt, wie es ihre Art war, wenn sie einen Plan hatte, über den sie nicht viel reden und er nicht viel wissen wollte. Er diente dem Rat, und sie diente der Familie, das ging nicht immer gut zusammen. Aber was sollte man machen, das Leben war nun mal nicht für einen Pfennig zu haben. Oft genug auch nicht für den kargen Lohn eines Nachtwächters.
    Er hatte sich neben den Herd gesetzt. Die mit Asche bedeckte Glut gab noch Wärme, auch das Bier, sie hatte den Krug fürsorglich auf die Herdecke gestellt, war halbwegs warm und vertrieb das Frösteln der Müdigkeit. Er kaute auf einem dünnen Streifen Speck, auf der linken Seite, rechts fehlten zu viele Zähne, und fühlte das Nahen angenehmer Trägheit, die dem Schlaf vorausging. Das war gut, dann würde wohl auch dieses vom Schlick verklebte, entsetzte, zugleich wie versteinert aussehende Gesicht mit den toten, blutunterlaufenen Augen nicht mehr aus dem Dunkel auftauchen.
    Wie alle Nachtwächter in dieser Stadt war er beim Militär gewesen, bevor er das Amt ergatterte. Er hatte den Krieg überlebt, den der Preuße gegen die Kaiserin in Wien angezettelt hatte, vielleicht auch

Weitere Kostenlose Bücher