Die Nacht des Schierlings
umgekehrt, so was konnte ein einfacher Mann nie wissen. Eine Schande, dieser Krieg, erst recht, wenn man bedachte, dass die beiden auch noch miteinander verwandt waren. Aber wenn stimmte, was man so hörte, waren die meisten Hochgeborenen über irgendwelche Ecken miteinander verwandt. Wie die Reichen hier in der Stadt, die kungelten aber eher miteinander, was ihn auch nichts anzugehen hatte.
Jedenfalls hatte er in diesen Kriegsjahren genug Gräuel gesehen, dass ihm der Dienst danach in der Garnison und dann als Wächter dieser sicheren Stadt wie eine Idylle vorkam. Und manchmal, wenn er mit den alten Bildern des Entsetzens aus tiefem Schlaf aufschreckte, wunderte er sich immer noch, dass er diese Metzeleien überlebt hatte, die die Herren Offiziere stolz Schlachten nannten und dazu von Feldern der Ehre salbaderten. Er hatte da wenig Ehre gesehen, mehr Blut und zerfetzte Körper, und noch mehr, die an irgendwelchen Fiebern und Pestilenzen krepierten.
Manche der anderen Nachtwächter murrten und beklagten ihre Arbeit als zu schwer oder zu wenig gedankt; er klagte nie und schlüpfte Abend für Abend gern in seinen dunkelblauen Wächtermantel. Der hing nun einen Schritt vor ihm am Haken, dicke Schlammspritzer klebten noch an den Schößen. Plötzlich wurde er wieder ganz wach. Wegen dem, was er in der Manteltasche vergessen hatte, fand er keine Ruhe. So ging es ja immer, wenn noch etwas unerledigt oder unbedacht geblieben war. Dann rumorte es so lange in seinem Kopf, bis es erledigt war oder ihm zumindest wieder einfiel. Er rappelte sich auf, seine steifen Knie erinnerten ihn daran, dass er alt war, und dann griff er doch nicht gleich in die Tasche.
Er überlegte. Wenn Sina seinen Fund in die Finger bekam, würde sie ihn gleich verschwinden lassen. Das war so eine von den Sachen, die er nicht wissen wollte, nach Sinas Meinung auch nicht sollte. Er würde den Fund auf der Wache abliefern, wie es seine Pflicht war, alles Weitere ging ihn dann nichts an.
Und wenn sie nun sagten, Sina habe das Ding gefunden? Das ging. Dann konnte sie einen Anschlag machen, vielleicht an einer der Säulen der Börsenhalle?, und auf einen Finderlohn hoffen. Denn sein Fund war wertvoll, vielleicht nicht so sehr für den Besitzer, der musste ein wohlhabender Mensch sein, aber für einen wie ihn, für Sina, für die allermeisten in der Stadt.
Gutes Silber, das hatte er gleich erkannt, als er den Knopf aufgehoben hatte. An der Ecke beim Heilig-Geist-Hospital war er mit der Stiefelspitze dagegengestoßen, hatte nochmal dagegengekickt und gemerkt, dass es kein kleiner Stein war. Er hatte das Ding aufgehoben und rasch eingesteckt, bevor Töpper, der zweite Wächter, etwas merkte. Seine Finger hatten einen schweren Silberknopf ertastet, gut gearbeitet, mit einem Muster auf der Oberfläche, und da, wo er angenäht gewesen war, hing noch ein Fetzchen Stoff.
Endlich griff er in die rechte Tasche – er konnte ja später entscheiden, was er tun sollte – und trat mit seinem Fund ans Fenster. Es war ein gut daumennagelgroßer Silberknopf, wie er ihn oft an den Kleidern wohlhabender Bürger gesehen hatte, auch manche Bauern aus den Vierlanden, den Marschen oder dem Alten Land zeigten damit ihren Reichtum an Weste und Rock. Wem immer er gehörte, hatte ihn nicht einfach nur verloren – dieser Knopf war grob von einem Rock gerissen. Bei einer Schlägerei. Wie sonst? Bei einem Überfall. Doch dann hätte er nicht im Dreck gelegen, sondern wäre längst bei einem Hehler.
Jedenfalls musste der Stofffetzen ein unübersehbares Loch hinterlassen haben. Nicht allzu groß, aber nur mit geübten Händen akkurat zu reparieren.
Das Muster auf der Oberseite des Knopfes war nicht nur irgendein Muster, es bestand aus einer schmalen, den Rand umlaufenden Ranke, die ein elegant geschwungenes H umschloss.
Ein H. Wie auf einem Familienring? Gut möglich.
Plötzlich sah er wieder den Toten daliegen, nicht das Gesicht, den ganzen Körper. Dass einer in ein Fleet fiel, kam gar nicht so selten vor, gab ja enorm viel Wasser in der Stadt. Wenn der Mann letzte Nacht aber nicht nur betrunken gewesen war, wenn einer beim Sturz nachgeholfen hatte? Und dabei den Knopf abgerissen? (Hätte er den fallen lassen?) Andererseits fand sich auf den Straßen alles Mögliche, und an den großen Fleetbrücken kam immer viel Volk vorbei. Dort gab es auch leichter Streit, weil die Brücken oft schmaler waren als die Straßen und die Fuhrleute sich einigen mussten, wer zuerst durchfahren
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