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Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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des Moments, was wichtig war.
    All diese Unsicherheiten konnte er nun vergessen, denn jetzt war das Bild in seinem Kopf komplett. Diese Stange hatte den im morastigen Fleet liegenden Bruno Hofmann dort unten gehalten, bis er sich nicht mehr bewegte. Bis er erstickt war. Und sonst? Er musste in der Tat ziemlich betrunken gewesen sein, wenn er es nicht geschafft hatte, sich von der ihn nach unten drückenden Stange zu befreien. Leider wusste Wagner genau – natürlich nur aus seinen jungen Jahren –, welche Verwirrung Branntwein in Kopf und Körper anstellen konnte.
    Er stellte die Stange zurück, arretierte sie sorgfältig und machte sich eilig auf den Weg in die Neustädter Fuhlentwiete. Er musste nun im Bremer Schlüssel seine Fragen stellen, und er musste essen, kein Mensch konnte ohne Essen leben, kaum vernünftig denken. Er konnte aber nicht mit dieser Stange, womöglich dem Mordinstrument, herumlaufen, falls er an Bruno Hofmanns Mörder vorbeikam, erkannte der, dass er ihm auf der Spur war. Ganz schlecht. Der sollte sich erst mal in Sicherheit wiegen. Diese Stange würde inzwischen kaum abhandenkommen. Und wenn doch – die Eisenspitzen auf den Stangen waren sicher alle gleich. Vom nächsten Eisenschmied beim Graskeller geschmiedet. Wo sonst?
    Vor einer Stunde hatte Wagner sich hinter einem ausladend mit Fässern beladenen Fuhrwerk verborgen. Das stand immer noch da, die Pferde waren inzwischen ausgespannt, aber die Ladung bot nach wie vor Sichtschutz. Hätte Wagner nicht nur an die Stange gedacht und sich noch einmal nach dem Fuhrwerk umgesehen … Aber warum hätte er das tun sollen? Dies war eine belebte Straße, hier gingen, standen oder rannten viele Menschen herum, niemand Besonderes wäre ihm aufgefallen.
     
    E s war sicher nur ein Zufall, dass Claes Herrmanns just in dem Moment seinen wie gewöhnlich mit Kardamom gewürzten Kaffee verschüttete, als ein neuer Gast eintrat und verkündete, der Konditor vom Rödingsmarkt sei tot. Nein, nicht der Bäcker beim benachbarten Heilig-Geist-Hospital, sondern dieser Hofmann aus Bergedorf, der die Runge’sche Witwe geheiratet hatte und aus dessen Backstube das beste Konfekt weit und breit komme, nun sei er tot, was für ein Jammer!
    Jensens Kaffeehaus bei der Börse war von jeher der Marktplatz für Nachrichten aller Art, es hieß auch, dass hier mehr lukrative Geschäfte eingefädelt wurden als irgendwo sonst in der Stadt, und zwar ebenso hanseatisch honorige wie solche, die man besser in einer diskreten Ecke verhandelte. Laut verkündete Nachrichten, die alle Gespräche verstummen ließen, waren selten, hier war man weltläufig und lebenserfahren, so schnell verschlug es niemand die Sprache, und wer doch erschrak oder staunte, bemühte sich, es nicht zu zeigen. Höchstens bei Neuigkeiten von der Art wie jener im Sommer, als im Hafen eine Bark eingelaufen war, deren Besatzung zur Hälfte (was sich allerdings als übertrieben herausstellte) schwarze Haut hatte, sogar der Steuermann!, und ein Weib sollte auch darunter gewesen sein. Lauter Wilde, aber gehorsam und halbwegs manierlich angezogen, wenn man das von Seeleuten überhaupt sagen könne.
    Oder im Frühsommer, als es hieß, der seit Wochen überfällige Konvoi von sechs Schiffen aus dem Mittelmeer, der von norddeutschen Seeleuten nur noch selten befahrenen Hochburg der algerischen Barbaresken, sei nun doch mit Heimatkurs vor Frankreichs Küste gesichtet worden und bei gutem Wind in absehbarer Zeit hier.
    Beide Male war es für einen Atemzug totenstill gewesen, um dann umso lauter zu werden, weil zu so unerhörten Nachrichten jeder seine Meinung kundtun wollte. Bei der Sache mit dem Konvoi wurde sogleich der teure Wein aus der französischen Champagne geordert, um die Rettung der schon abgeschriebenen Fracht zu feiern – ja, gewiss, das Überleben der Besatzungen auch –, und Jensen und seine beiden Schankmägde hatten ordentlich zu tun.
    Die andere Nachricht hatte nur dazu geführt, dass sich das Kaffeehaus früher als gewöhnlich leerte. Zwar gab sich keiner der Kaufleute, Reisenden, Diplomaten, wohlhabenden Privatiers und wer sich den Besuch bei Jensen sonst leisten konnte, die Blöße, umgehend zum Hafen zu eilen, nur um ein paar seltsame Exemplare der Spezies Mensch zu bewundern. Die waren ja den meisten zumindest vereinzelt, zumeist als Diener in sehr reichen Häusern längst bekannt. Doch nach und nach hatten sich alle am Hafen eingefunden, zufällig just dort, wo die über die Westindischen

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