Die Nacht des Schierlings
vergiftet. Es hat funktioniert, findest du nicht?» Sie nickte nur, und er fuhr fort: «Du sorgst dich um Muto.»
«Ja, es kann nur ein oder zwei Tage dauern, bis die Leute in ihm ihren Sündenbock gefunden haben. Wie Servatius aufgezählt hat: ein Fahrender, der nicht spricht, dazu ein Rotschopf, ein wütender Akrobat, also ein Mann mit starken Armen. Und mit einer schönen, leichtfertigen Liebsten. Das ‹Gerangel› mit dem nun Toten – gibt es einen passenderen Schuldigen?»
Magnus schwieg, die Frage bedurfte keiner Antwort. Er zog sie näher an sich heran, anders als gewöhnlich und obwohl sie des Trostes bedurfte, blieb ihr Körper steif und auf Distanz. Sie brauchte Zeit. Wenn sie etwas quälte, war sie unfähig, tröstende Nähe zu ertragen, sei es die eines Körpers oder einer Seele. Dann erlebte er sie stumm und abwehrend bis zur Schroffheit. Zu ihrer beider Glück wusste er das. Auch, dass es selten lange dauerte.
So dunkel die Nacht nun war, es war um Neumond, und die bei Jakobsen ausgeliehene Laterne glomm nur müde, so milde war es noch für Mitte Oktober. Sie beeilten sich nicht. Heute wartete niemand auf sie. Pauline, Köchin, Wirtschafterin, Mädchen für alles in ihrem bescheidenen Haushalt, half heute bei ihrer kranken Tochter auf dem Grasbrook aus.
Und Tobias, der Junge aus dem Waisenhaus, der bei ihnen «in Kost» lebte, war für zwei, wenn alles gutging vielleicht auch für drei Wochen im neuen Sommerhaus der Bocholts zu Gast. Er war sehr krank gewesen, eines dieser Fieber, von denen auch die Ärzte nicht genau wussten, woher sie kamen, zum Glück war es nicht, wie zuerst befürchtet, die Halsbräune gewesen, die überlebten die wenigsten Kinder. Nun erholte er sich auf dem Land, half bei der Ernte der Spätäpfel und Nüsse und lernte eifrig, wie die Gartenarbeit im Herbst vonstattenging. Seine Bücher, auch das hatten sie gehört, lagen derweil unberührt, insbesondere die Fibel. Sie vermissten Tobi beide sehr.
«Ich habe Hunger», sagte Rosina, als sie in die Mattentwiete einbogen, «wir hätten von Ruths Suppe essen sollen, jetzt gibt es nur kaltes Rauchfleisch, weißen Käse, Senfgurken und Brot. Ich glaube, ein Krug Rotwein ist noch da.»
«Und Besuch», sagte Magnus, «schau mal, wer auf unserer Schwelle hockt und döst.»
Weddemeister Wagner schnarchte leise. Auf seinem Schoß hatte sich die junge Katze der Hopperbeks aus dem vierten Stock zusammengerollt und leistete ihm mit vernehmlichem Schnurren Gesellschaft.
KAPITEL 6
M eisterin Hofmann hatte ihren zweiten Ehemann nicht im Runge’schen Familiengrab in St. Nikolai beisetzen lassen, sozusagen Sarg auf Sarg mit seinem Vorgänger. Das konnte man verstehen. Dass Bruno Hofmann aber schon an diesem Nachmittag und in aller Stille beerdigt wurde, war befremdlich. Wenn er auch ein Neuling in der Stadt gewesen war, musste einem Meister und vereidigten Bürger der Stadt, durch seine Ehefrau Mitbesitzer eines beachtlichen, Wohnung, Backstube und Speicher bergenden Hauses in bester Lage und Nachbarschaft, die letzte Ehre erwiesen werden. Zumindest in einem ordentlichen Trauerzug, der Leichenwagen gut ausstaffiert und gerne sechsspännig, manierliche Andenken für die Trauergemeinde und zum Abschluss ein reichgedeckter Tisch. Hamburger Begräbnisse waren berühmt (kniepige Kleingeister sagten: berüchtigt) für ihren Aufwand und teurer als manche Hochzeit, da konnte niemand, der auf sich hielt, zurückstehen. War einer nicht an Krankheit, dem Alter oder bei einem Unfall, sondern durch eigene oder fremde Hand zu Tode gekommen, musste jeglicher Aufwand unterbleiben, gab es häufig sogar nur ein Grab in ungeweihter Erde.
Bruno Hofmann bekam seinen letzten Platz auf Erden immerhin auf einem ordentlichen Friedhof, wenn auch im einige Meilen östlich gelegenen Städtchen Bergedorf, wo zwar keine Familienangehörigen mehr lebten, aber er stammte von dort. Schnell sprach sich herum, Jungfer Runge habe das alles arrangiert, ihre Mutter, die allgemein bedauerte Madam Hofmann, sei in Trauer erstarrt. Die tüchtige Molly hingegen habe ihren klaren Verstand beisammen und sorge auch dafür, dass im Haus am Rödingsmarkt wieder gearbeitet wurde. Es war Herbst, die feinen Konfitüren, die in einer guten Confiserie nie fehlen durften, mussten gekocht werden, bevor die Früchte verdarben. Die Zeit der Kirschen, Erd- und Himbeeren war längst vorbei, auch Aprikosen, Mirabellen, Holunder- und Brombeeren waren verarbeitet, überhaupt die Beerenfrüchte.
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