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Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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Der letzte Gedanke, den sie mitnahm, galt Momme. Vielleicht hatte sie ihm unrecht getan. Vielleicht war er fürsorglicher, als sie glaubte, und hatte sein Interesse an der Tochter des Hauses just heute bekundet, weil er einer Witwe und Mutter an der Schwelle zu einer ungewissen Zukunft die Sorge um ihre Tochter nehmen wollte? Dann hatte sie ihn falsch eingeschätzt und verkannt, dann tat sie gut daran, seinen Antrag – wenn es denn schon einer gewesen war – ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Leider fand sie immer noch, dass er überhaupt nicht gut roch.
     
    N eumond, dachte Anne Herrmanns, unsicher, ob es stimmte oder ihr nur so erschien. Sie lauschte in der Dunkelheit auf die Atemzüge ihres Ehemanns und fragte sich, wie er nur so ruhig schlafen konnte. In all der Zeit, die sie nun verheiratet waren – für ihn war es die zweite Ehe, für sie die erste –, hatten sie sich selten gestritten. Was erstaunlich war, denn wer sich in so reifen Jahren zusammentut, hatte zwar weniger Illusionen als junge Menschen, aber mehr Eigenheiten, wenn man es nicht Sturheit nennen mochte. Es war auch erstaunlich leicht gewesen, ihr gemeinsames Leben einzurichten. Ihre Tage, Wochen und Jahre verliefen zumeist einträchtig, sie lebten zufrieden, oft glücklich. Nicht nur in der Familie, auch in der Stadt hatte man sie freundlich aufgenommen, die Bocholts, die van Wittens, die Büschs, die Matthews, die Bachs oder die Reimarus – die ganze Gesellschaft, zu der die Herrmanns und so auch sie gehörte.
    Natürlich hatte es Konflikte und Enttäuschungen gegeben, Heimweh nach ihrer Insel und den Menschen, die sie dort zurückgelassen hatte, Gefühle der Fremdheit, in einem Jahr so sehr, dass sie die Stadt und damit ihren Ehemann für einige Zeit verlassen hatte, um auf eine große Reise zu gehen. Das waren harte, kummervolle Monate gewesen. Ihre Feuerprobe. Dann hatte sich alles zum Guten, sogar zum Besseren gewendet und war zu einem großen, gemeinsam bestandenen Abenteuer geworden.
    Was heute geschehen war, war nur eine Kleinigkeit. Etwas Alltägliches. Ein unbedeutender Misston. Nur eine Meinungsverschiedenheit? Ein Missverständnis? Warum war daraus dieses vage Gefühl der Bedrohung geworden?
    Als sie selbst über der Suche nach dem richtigen Wort nicht einschlief, glitt sie aus dem Bett und trat ans Fenster. Es war stickig in der Kammer, sie öffnete den rechten Flügel einen Spaltbreit, behutsam, die Scharniere quietschten immer ein bisschen, und atmete tief ein, als die kühle feuchte Nachtluft wohltuend über ihr Gesicht strich. Ein brackiger Geruch stieg vom Fluss unter dem Fenster auf, es war Ebbe, die Geräusche der im Hafen festgemachten Schiffe, die Stimmen von den Schenken am Ufer, leise nur, es war längst die Zeit, in der das Licht gelöscht sein sollte, dann Hufschlag von irgendwo, das Rattern von Rädern einer schweren Kutsche. All die Geräusche ließen in ihrem Kopf Bilder entstehen, aber die vertrieben nicht das Bild, das sie beunruhigte. Das Gesicht ihres Mannes starr, die Augen kalt. War er zornig gewesen? Er hatte es abgestritten, als sie ihn später fragte. Abgestritten – wie das klang. Er hatte nur gesagt: «Aber nein, Liebe, nein. Ich war doch nicht zornig, wie kommst du nur darauf?»
    Sie hatte ihn nicht gleich fragen können, nachdem der Schneider endlich gegangen war. Betty hatte sie gebraucht, es gab ein Problem mit Valerie, dem neuen Mädchen, das geklärt werden musste. Tatsächlich war es nur eine kleine Eifersüchtelei gewesen, die Betty, nun schon seit einer ganzen Reihe von Jahren im Haus und sehr geschätzt, wirklich nicht nötig hatte. Dann war es Zeit für das Abendessen gewesen, vor der ganzen Familie konnte und wollte sie nichts fragen, was nur ihn und sie anging. Anschließend hatte Christian noch eine Kontorsache mit seinem Vater zu besprechen. Augusta zog sich zurück, Niklas, der jüngere Sohn, war ohnedies unterwegs nach Göttingen, wo er bald die Universität besuchen wollte. Immerhin waren an diesem Abend keine Gäste bei Tisch, dann wäre es sehr spät geworden. Und während die Gänge aufgetragen wurden, das Geschirr abgeräumt, neues aufgelegt, Wein eingeschenkt, sah und hörte sie die Familie, die im Kerzenlicht um den reichgedeckten Tisch saß. Es wurde über die erstaunliche Prosperität der neuen Kattundruckerei in Wandsbek geredet, die die Hamburger Konkurrenten ernstlich zu sorgen begann, über das Für und Wider der im August beschlossenen Verringerung des städtischen

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