Die Nacht des Schierlings
Bergedorf, der Pastor dort kannte ihn und hat ihn und uns auf dem letzten Weg begleitet. Das war meiner Mutter ein großer Trost. Uns allen.» Sie reichte ihrer Mutter ein Schnupftuch und goss ihr aus einer Tonkruke einen Becher Birnensaft ein. «Jeder Tag längeres Warten hätte nur mehr Kummer bedeutet», fuhr sie fort, «und mehr Aufsehen. Als Weddemeister wisst Ihr doch am besten, wie die Leute sind. Ich habe darauf gedrungen, den Meister so rasch wie möglich in Bergedorf zu beerdigen. Besonders für meine Mutter», sagte sie leise, «ist das alles entsetzlich genug, das muss man nicht verlängern.»
«Gewiss», murmelte Wagner, «ich meine, gewiss nicht.» Er wäre gerne aufgestanden und gegangen, denn das war wieder einer dieser Momente, die er in seinem Beruf gar nicht liebte. Die süße Klebrigkeit des Konfekts und der Duft des Birnensafts hatten ihn durstig gemacht, leider dachte niemand daran, ihm etwas zu trinken anzubieten.
Magda Hofmann hatte sich wieder gefangen und sah ihn aufmerksam an.
«Am Dienstag, Madam, habt Ihr gesagt, Euer Gatte sei am Montagabend im Bremer Schlüssel gewesen und müsse sich dort, nun ja, er müsse sich dort betrunken haben. Er war tatsächlich dort, aber nur an der Tür, der Wirt wollte ihn nicht hereinlassen, weil er schon sehr, wirklich sehr betrunken war. Er muss vorher anderswo eingekehrt sein oder, nun ja, kann es sein, dass er hier mit Euch oder allein das eine oder andere Glas geleert hat?»
«Wie ich Euch bei Eurem ersten Besuch schon sagte, hatten wir eine Meinungsverschiedenheit. Eine, wie sie bei Eheleuten vorkommt, und ich muss gestehen, dabei haben wir ein wenig Wein getrunken. Es ist möglich, dass mein Mann ein Glas mehr getrunken hat. Vielleicht auch zwei. Ich habe nicht darauf geachtet.»
«Der war kein schwerer Trinker», verteidigte Elwa die Familienehre, «das bestimmt nicht, grad deshalb war der Meister schnell betrunken. Wenn man nicht viel trinkt, geht das immer schnell. So war das dann wohl an dem Abend auch.»
Ludwig räusperte sich. Er war bisher so still gewesen, dass Wagner ihn fast vergessen hatte, dabei hatte er sich vorgenommen, den Gesellen besonders im Auge zu behalten.
«Ich hab ihn danach noch in der Backstube getroffen, Meisterin, das muss ich nun wohl sagen. Ich hatte grad’ ein Schlückchen von dem Branntwein probiert, von der neuen Sorte, da hat er sich für ’ne Viertelstunde dazugesetzt. Ich dachte, er ist ärgerlich, war er aber nicht. Das mit dem Branntwein, hat er gesagt, kommt ihm gerade recht. Er war von dem, den wir zum Einlegen brauchen wollen, für die getrockneten Früchte», erklärte er dem Weddemeister. «Sonst hat der Meister nicht viel gesagt. Wir haben über die Nussernte gesprochen und ob es gut wär’, den Gewürzkrämer zu wechseln. Das wollte er schon länger, ich fand das nicht so gut. So Sachen eben. Backstubengespräch. Er hat was mit mir getrunken, und dann ist er nochmal los.»
«Hat er gesagt, wohin er wollte?», fragte Molly, ihre Stimme klang zögernd. «Wirklich wollte, meine ich.»
Ludwig nickte. «Er hat gesagt, er geht nochmal in den Schlüssel , fast hätte er’s vergessen, er ist da zu ’ner Runde Karten verabredet. Oder Würfel? Das weiß ich nicht mehr. Er hat jedenfalls gesagt: zu ’ner Runde.» Er hatte zuletzt Magda Hofmann angesehen, nun wandte er sich wieder an den Weddemeister: «Wann war er denn bei Jakobsen?»
«Etwa halb elf, vielleicht ein bisschen später.»
Ludwig schüttelte bedächtig den Kopf. «Hab ich mir gedacht. Dann war er vorher noch woanders, gibt ja genug Schenken, und wer weiß, was die da in ihren Fusel mischen. Hier ist er weggegangen, als es zehn geschlagen hat. Ich hab noch gesagt, er soll die Laterne nehmen, nach zehn muss man in den Straßen doch eine haben. Er hat gesagt, er ist eigentlich längst müde und geht ja nicht weit. Und ist bald zurück, das hat er auch noch gesagt.»
Alle schwiegen. Er war wirklich nicht weit gegangen. Manchmal wartet der Tod nur wenige Schritte weiter.
«Warum seid Ihr nicht mitgegangen?», fragte Wagner den Gesellen.
Ludwig schüttelte entschieden den Kopf. «Bin ich nie. Der Meister geht dahin, der Geselle anderswohin. Ich war auch müde, war ja spät, und wir stehen früh auf. Ich bin in meine Kammer raufgegangen und hab mich schlafen gelegt. Wie immer.»
«Und ich hab ihn auf der Treppe gehört und die vordere Tür zugemacht», meldete sich wieder Elwa. «Ich wusste gar nicht, dass der Meister nochmal weg war. Ich
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