Die Nacht des Ta-Urt (German Edition)
geholt, dessen Rat aber nicht angenommen. Vielmehr wurde das Mädchen in ein Kloster am Rande der Stadt gebracht. Im Jahre 1582 war es dann innerhalb weniger Tage zu regelrechten Massenverfolgungen gekommen. Was der Auslöser dieser Verfolgungen gewesen war, darüber fand sich nichts in den Akten, die Elaine aus dem Keller des Archivs bekam, aber die halbe Stadt schien in das weitere Geschehen verwickelt gewesen zu sein. Aber die Papiere enthielten eine detaillierte Beschreibung von der Folterung der vermeintlichen Anführerin der Hexensekte. Elaine war schockiert über die ungeheuerliche Brutalität, mit der man in damaliger Zeit Verhöre führte. Auf jeden Fall hätte sie selbst schon bei Androhung dessen, was man der jungen Frau angetan hatte, den Mord an Kennedy und das Attentat auf den Papst zugegeben. Über vier Tage und Nächte hinweg hatte man die Frau den entsetzlichsten Torturen ausgesetzt, um ein Geständnis zu erzwingen. Elaine hätte sich überhaupt nicht gewundert, wenn die, zweifellos unschuldige, Angeklagte schließlich gestanden hätte. Leider aber waren die Protokolle unvollständig. Nur die ersten drei Nächte der Tortur waren überliefert und der Name der Frau wurde überhaupt nicht erwähnt, was eigentlich ungewöhnlich war. Über die vierte Nacht fand Elaine nichts in den Akten. Aber am Morgen des fünften Tages war fast die gesamte Stadt einem verheerenden Feuer zum Opfer gefallen.
So war über den Ausgang des Verhörs und das weitere Schicksal der jungen Frau nichts mehr in Erfahrung zu bringen. Elaine fand in den Stammbüchern zwar weitere Einträge über Dokumente aus dem Monat, in dem das Verhör stattfand, aber diese waren, so beteuerte der Archivar, während der Nachkriegswirren des letzten Weltkrieges, als das Archiv von ehemals Kriegsgefangenen Russen geplündert wurde, allesamt verschwunden.
Diese Auskunft befriedigte Elaine nicht. Sie hielt nicht viel auf ihre Menschenkenntnis, aber der faltige Kehlkopf des Mannes war, als sie nach den verschwundenen Akten fragte, aufgeregt auf und ab gehüpft, und das hatte sie an der Aufrichtigkeit seiner Auskünfte zweifeln lassen. Zu gern hätte sie gewusst, was in dieser geheimnisvollen vierten Nacht geschehen war. Sie war unter einem Vorwand sogar bis zum Leiter des Archivs gegangen, aber der hatte sie nur an den Archivar mit dem aufgeregten Kehlkopf zurück verwiesen. An dem Mann vorbei lief anscheinend gar nichts. Überhaupt war ihr der Mann schon vorher durch seine unangenehme Angewohnheit aufgefallen, wie aus dem Hut gezaubert plötzlich neben den Tischen aufzutauchen und neugierige Blicke über die Schultern der Studierenden zu werfen. Es schien ihm nicht zu reichen, dass er durch die Bestellzettel die Kontrolle über die Ausgabe von Dokumenten hatte, er wollte auch noch die Notizen der Lesesaalbenutzer kontrollieren.
***
Bei ihrem vierten oder fünften Besuch im Stadtarchiv fiel Elaine ein älterer Mann auf, der die gleichen Urkunden zu bestellen schien wie sie. Auf jeden Fall hatte der Archivar sie schon einige Male darauf aufmerksam machen müssen, dass sie die eine oder andere Urkunde erst morgen bekommen könne, da sie schon im Lesesaal zur Einsicht stünde. Dabei hatte der Mann mit seinen nikotinvergilbten Fingern in Richtung des älteren Mannes gewiesen.
Ihr Konkurrent saß in einer Ecke des Saals vor einem Laptop, Berge von Büchern und Papieren neben sich, die Lesebrille auf der Nasenspitze balancierend und in seine Arbeit vertieft. Der Menge der vor ihm sich türmenden Bücher nach zu schließen, schrieb er eine größere Abhandlung zum Thema.
Als sie wieder einmal auf ein Dokument warten musste, stand sie von ihrem Tisch ganz vorn an der Ausgabetheke auf, ging in den hinteren Teil des Lesesaales und sprach den Mann vorsichtig an.
"Entschuldigen Sie, ich habe gesehen, dass sie sich auch mit der Geschichte unserer Stadt im ausgehenden 16. Jahrhundert beschäftigen."
Der Mann sah von seinem Laptop auf, schob die Brille auf die Stirn und sah sie mit einem fragenden Blick an.
Er wollte offensichtlich die Initiative ihr überlassen. Also fuhr Elaine fort.
"Ich interessiere mich besonders für die Hexenverfolgungen, und mir ist aufgefallen, dass Sie teilweise die gleichen Dokumente studieren?"
"Hm, ja ," antwortete der Mann, "das kann schon sein. Tatsächlich, ich habe eine größere Arbeit über einen der damaligen Chronisten in Arbeit."
"So?" fragte Elaine.
Sie hatte inzwischen jede Menge Dokumente studiert,
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